Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Alexander Sokurow

Vom Nachglühen der Leinwände

Alexander Sokurow, 1951 in Ostsibirien geboren, erlernte das Filmhandwerk beim Fernsehen und an der Moskauer Filmhochschule WGIK, die er nicht zuletzt dank der Fürsprache von Andrej Tarkowskij abschliessen konnte. Sokurows fast fünfzig Filme zählendes Werk ist nach seinem eigenen Bekunden weniger von anderen Filmschaffenden als von der Malerei und der Musik geprägt, was auch mit langen Spitalaufenthalten in seiner Kindheit zusammenhängt. Unser Filmdozent Fred van der Kooij hat aus dem Gesamtwerk eine persönliche Auswahl getroffen. Wie setzt sich Qualität in einer Kultur wie der unseren durch? Die Antwort ist einfach: oft ausserordentlich mühsam. Das kann Jahrzehnte, ja mitunter Jahrhunderte dauern, und selbst dann ist nicht unbedingt klar, ob das wirklich Bedeutende tatsächlich erkannt worden ist. Der Gemeinplatz, wonach sich Qualität am Ende sowieso durchsetze, unterschlägt die Frage, wie diese Auswahl überhaupt zustande kommt. Denn eines Tages scheinen sie einfach da zu sein, die Meisterwerke – fremdbestimmt von irgendeiner dunklen Instanz und hereingeschmuggelt durch die Hintertür.
Warum ich das alles hier erzähle? Weil mit Alexander Sokurow, dem «Star» meiner diesjährigen Herbstvorlesungen, wohl ganz Ähnliches geschehen wird. Seine knapp fünfzig Filme sind beileibe nicht alle Meisterwerke, doch mehrere würde ich eindeutig als solche bezeichnen. Wie aber soll man dies als Zuschauer herausfinden? Sich durch alle 49 Werke hindurchkämpfen, um am Ende jene zehn, die zu sehen sich (mehr als) lohnt, im Herzen und Gedächtnis aufzubewahren? Die Mühe kann ich Ihnen abnehmen, weil ich mich – mal fluchend, mal vor Begeisterung aufjauchzend – bereits durch Sokurows Gesamtwerk gearbeitet habe. Das Resultat sind zwölf handverlesene Filme und wie immer fünf Vorlesungen, in denen diesmal nicht nur filmische Qualitäten im Mittelpunkt stehen werden, sondern auch die Kriterien, mit denen sie eruiert wurden. Streng genommen gibt es nur ein einziges Qualitätskriterium in der Kunst: Ausnahmslos das, was unsere Augen und Ohren schärft, wird unsere erste, noch skeptische Neugierde dauerhaft überleben.
Doch zurück zu Alexander Sokurow. Wer ist er überhaupt? Bekannt wurde er einem breiteren Publikum mit seinem Film Russkij kowtscheg (2002). Und weil wir nun mal eine kulturelle Kolonie sind, lief er in unseren Kinos konsequenterweise unter seinem englischen Titel Russian Ark und erntete begeisterte Kritiken. Im Werk des russischen Cineasten ist dieser Film allerdings eher ein Sonderfall, bestaunt als virtuoser Kraftakt einer einzigen, 99 Minuten dauernden Einstellung. Sie führt zeitlich quer durch verschiedene Epochen und zugleich räumlich durch die St. Petersburger Eremitage.

Delikate Gebilde von höchster Intensität
Fast alle anderen Filme Sokurows sind aber, obwohl technisch oft genauso einfallsreich, deutlich weniger auf Spektakel ausgelegt. Ganz im Gegenteil, es sind sehr private Erlebnisberichte, des Öfteren höchst delikate Gebilde, die uns eine Bilder- und Klangwelt eröffnen, welche wir sonst nur aus unseren Träumen kennen – gleichermassen rätselhaft wie emotional aufgeladen und irgendwo zwischen Bericht und malerischen Tableaux vivants herumtreibend. Verschlüsselt und zugleich von höchster Intensität. Eine filmische Welt, die ihre Herkunft aus den bildmächtigen Epen Andrej Tarkowskijs zwar nie verleugnet, aber mittlerweile einen durchaus unverwechselbaren Stil aufweist. Wie aber soll man sich solch merkwürdigen Gebilden nähern? Ich glaube, wir sollten zunächst auf Fragen nach dem Was und Warum verzichten und uns ganz auf das Wie konzentrieren.
Zu bedenken ist zudem, dass jede Erklärung sprachlicher Natur ist. Es ist schon fast ein Glücksfall, wenn man einmal einen fremdsprachigen Film ohne Untertitel vorgesetzt bekommt. Mir passierte das vor einigen Jahren mit Sokurows Elegie einer Reise (Elegia dorogi, 2001). Der ganze Film steckt voller ebenso geheimnisträchtiger wie hypnotisierender Bilder. Stürme, Schneegestöber, Ströme von Regen scheinen jederzeit ganze Städte von der Leinwand wegschwemmen zu wollen. Dieses Endzeitwunder wird vom relativ monotonen Erklärungsgemurmel des Regisseurs begleitet, von dem ich damals aber natürlich kein Wort verstand. Vor Kurzem fiel mir jedoch eine ordentlich untertitelte Kopie in die Hände, und verblüfft bemerkte ich: Der Regisseur tapst durch seinen eigenen Film und wirkt dabei so verwirrt und erstaunt wie der naivste Zuschauer! «Da fand ich mich selbst an einem vollkommen anderen Ort wieder!», wundert er sich etwa. «Alte Mauern rundherum. Ein Leuchtturm. Ist es eine Insel?» Nein, nein, Herr Sokurow, Sie stehen im nächtlichen Rotterdam direkt vor dem Museum Boijmans Van Beuningen, das Ihnen den Auftrag für diesen Film gab! Und schon rutschen wir ins Finale dieses erstaunlichen Werks, in einen nächtlichen Museumsbesuch bei Vollmondbeleuchtung. Ich muss künftige Zuschauer schon jetzt warnen: Sie werden sich danach in einer ordentlich beleuchteten Ausstellung kaum mehr zurechtfinden. Das wenige Licht, das auf die Werke fällt, spielt dem Regisseur natürlich umgehend wieder einen Streich, als er eines der Gemälde als sein eigenes zu erkennen glaubt: «Ein Platz in einer alten Stadt. Die Ruhe des Sommers. Ein unendliches Leben. – Hab ich dieses Bild nicht selbst gemalt?» Da muss erneut korrigierend eingegriffen werden: Es stammt vom alten Pieter Saenredam. Woran man sehen kann, wie das Dogma des Dokumentarfilms, jenes der absolut vertrauenswürdigen Information, von Sokurow leichthin über Bord geworfen wird. Wie muss es dann erst in seinen Spielfilmen zu- und hergehen?
Zum Beispiel so: Sie gehören vielleicht zu jenen, die Dostojewskis «Verbrechen und Strafe» seit Langem nicht mehr gelesen haben. Dann versuchen Sie sich doch mal so genau wie möglich daran zu erinnern, und wenn Sie anschliessend Sokurows Verborgene Seiten (Tichije stranizy, 1993) anschauen, werden Sie feststellen: Genau wie dieser Film funktioniert auch Ihr Gedächtnis. Einzelne Szenen tauchen darin auf, aber natürlich sehr fragmentarisch. Geschehnisse erscheinen, aber ohne grosse logische Verankerung. Und das meiste treibt sowieso verführerisch im Vagen. Doch was die intensive Atmosphäre angeht, glaubt man, das Buch gerade erst aus der Hand gelegt zu haben, und dies allein schon wegen der Art, wie bereits in der ersten Einstellung der Raum geformt wird! Bei Sokurow bleibt im Gegensatz zur aktuellen Mode des 3D-Kinos die Leinwand immer als Fläche spürbar. Wenn seine Kamera in langsamer Bewegung die Orte des Geschehens abtastet, entsteht eine ganz eigenartige Spannung. Eine merkwürdig flächige Tiefe tut sich auf, sodass sich der Zuschauer zugleich an- und abwesend fühlt. Und dies angesichts von Ereignissen, die erst noch den Anschein machen, als wären alte Sepiazeichnungen zum Leben erweckt worden. Was den Bildern dabei mutwillig an Präsenz genommen wird, wird umgehend auf ungewöhnliche Weise kompensiert: Es ist, als hauche das Projektionslicht die Leinwand sanft an, welche darob in leichte Schwingung gerät. So als flüstere der Film, frei nach Goethe, seinen Zuschauern zu: «Warte nur, balde atmest du auch.»
Fred van der Kooij