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Pre-Code Hollywood: Let's Misbehave

Ein offener Umgang mit Sexualität und mit gern verdrängten gesellschaftlichen Realitäten, ein grossstädtischer Rhythmus und scharfe Dialoge prägen die Filme von Pre-Code Hollywood, der Zeit vor der Durchsetzung des Hays Code. Lange im Schatten des klassischen Hollywood oder aus zensorischen Gründen weggesperrt, erleben die Filme der frühen Tonfilmzeit heute ihre Wiederentdeckung. Die frühe Tonfilmzeit stellt in der Geschichte Hollywoods eine Periode aussergewöhnlicher Freiheit und Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Wirklichkeiten dar. Im Juli 1934 brach mit der Durchsetzung des Motion Picture Production Code oder Hays Code diese Epoche jäh ab. Obwohl der Code offiziell bereits 1930 eingeführt wurde, blieben seine Vorgaben von den Studios grösstenteils unbeachtet. Viele Filme standen diesen Vorgaben geradezu diametral gegenüber und kreisten um Sexualität und freiere Beziehungsformen, Prohibition und Verbrechen, grossstädtische Lebenswelten mit Showbühnen und sogenannten Gold Diggers. Die Pre-Code-Filme erzählten in einem frechen, respektlosen und ungeschönten Ton vom Alltag in Amerika, geprägt von Depression, Hoffnungslosigkeit und Kriminalität, von Alkoholkonsum, emanzipierten Frauen und Überlebenskünstlern. Den Rhythmus der Grossstadt nahmen sie in dynamischen Montagen, schnoddrigen Dialogen, überstürzten Handlungen und elliptischen Erzählweisen auf.

Vorauseilende Selbstzensur
Der Hays Code entstand ursprünglich als eine freiwillige Selbstbeschränkung der Studios, um drohenden Boykotten und staatlicher Zensur zu entgehen. Um dem schlechten Ruf Hollywoods, das in den zwanziger Jahren als «Sündenbabel» bekannt war, etwas entgegenzusetzen, gründeten sie 1922 die MPPDA (Motion Picture Producers and Distributors of America) und setzten mit Will Hays einen Vorsitzenden ein, der beste Kontakte zur Politik hatte. Die Gefahr einer staatlichen Zensur war damit fürs Erste gebannt und die Verantwortung an die Studios übertragen. Die Prinzipien des Codes postulierten einen «einwandfreien» Lebensstil, in dem Verbrechen bestraft, Autoritäten nicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden und Sexualität, Drogen- und Alkoholkonsum erst gar nicht vorkommen dürfen. Ein durch den New Deal verändertes gesellschaftliches Klima sowie Boykottdrohungen der 1933 gegründeten und schnell sehr einflussreich werdenden Catholic League of Decency führten dazu, dass der Code ab dem 1. Juli 1934 offiziell durchgesetzt und erst 1967 wieder ganz abgeschafft wurde.
Die Implementierung des Codes markiert den endgültigen Abschied von den Roaring Twenties, einer Ära der Dynamik im gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich. Die Wirtschaft boomte, Frauen war eine vorher unerhörte Freiheit möglich, neue Technologien setzten sich im Alltag durch. Der Börsencrash von 1929 und die daraufhin einsetzende Depression setzten dieser Zeit ein abruptes Ende. Die späten zwanziger und frühen dreissiger Jahre waren eine Zeit der tiefen Verunsicherung, in der die amerikanische Verheissung des Selfmademan keine Gültigkeit mehr hatte. Zynismus und Misstrauen gegenüber Justiz und Staatsvertretern waren die Folge.

Männer – und neue Frauen
Zu den zentralen Pre-Code-Genres gehört der Gangsterfilm, dessen Blütezeit zwischen 1930 und 1932 lag. Dreh- und Angelpunkt dieser Filme war die Prohibition, die 1919 in Kraft trat und erst 1933 abgeschafft wurde. Der damit verbundene Alkoholschmuggel spielte eine wichtige Rolle, Schmuggler und Bootlegger wurden durch die Filme zu etablierten filmischen Stereotypen. In diesen Filmen wurden Erfolgsgeschichten von Männern erzählt, die sich trotz widriger Umstände mit List und Durchsetzungsvermögen aus der Armut befreien konnten und zu Geld, Ruhm und Macht kamen.
Für Frauenfiguren war die Pre-Code-Zeit ein goldenes Zeitalter. Sie befreiten sich von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen, waren selbstbestimmt und selbstbewusst, zogen in die grossen Städte, um dort als Sekretärin, Krankenschwester, Telefonistin, Reporterin oder Chorusgirl zu arbeiten. Es war ihnen erlaubt, ihre Sexualität frei und selbstverständlich auszuleben – ohne dafür bestraft zu werden.
Während das amerikanische Kino von 1934 bis in die fünfziger Jahre hinein als klassisches Hollywood kanonisiert wurde, blieb das Pre-Code-Kino weitgehend unbeachtet. Die meisten Pre-Code-Filme verschwanden für Jahrzehnte im Schrank und durften weder wiederaufgeführt noch im Fernsehen gezeigt werden. So sind nicht nur diese Filme neu zu entdecken, sondern auch viele der damals wichtigen Schauspielerinnen und Schauspieler.
Annette Lingg
Annette Lingg

Annette Lingg hat in Zürich und Berlin Ethnologie und Filmwissenschaft studiert. Sie ist Programmmacherin im Kino Arsenal, Berlin, und für das Forum der Berlinale tätig. Die mit (al) gekennzeichneten Kurztexte stammen ebenfalls von Annette Lingg.
Das Pre-Code-Programm wurde vom Kino Arsenal, Berlin, mit Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds (www.hauptstadtkulturfonds.berlin.de) kuratiert und recherchiert; dort läuft die dreissig Filme umfassende Reihe noch bis Ende Juli. Da nur zu sehr wenigen der Filme deutsche Untertitel existieren, hat das Kino Arsenal auch mehrere Untertitelungen anfertigen lassen.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Berliner Kollegen, dass wir von dieser grossen Vorarbeit profitieren dürfen!