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Japan im Spiegel seiner Filmklassiker: Vom Feudalstaat zur modernen Nation

Das japanische Kino hat gleich mehrere Hochblüten erlebt. Dies zeigt eindrücklich die Retrospektive mit Klassikern des japanischen Films seit den 1930er Jahren, die das Filmpodium Zürich in Zusammenarbeit mit der Japan Foundation und der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft aus Anlass von 150 Jahren diplomatischer Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz zeigt. Über die filmischen Aspekte hinaus ist die Filmreihe auch ein faszinierender Spiegel japanischer Zeit- und Kulturgeschichte. Japan hat in den letzten 150 Jahren verschiedene Phasen kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen dramatischen Ausmasses durchlaufen. Seit der Öffnung des Landes 1868 erlebte es eine rapide, alle Lebensbereiche umfassende erste Modernisierung und entwickelte sich binnen weniger Jahrzehnte von einem isolierten Feudalstaat zu einer industrialisierten, urbanisierten und «verwestlichten» Kolonialmacht. Der Zweite Weltkrieg liess traditionelle nationalistische Werte und andere Ideologien lebendig werden. Der Krieg endete abrupt mit der Niederlage und einer Deklaration des Kaisers, dass er kein Gott, sondern ein normales menschliches Wesen sei. Die amerikanische Besatzung förderte Demokratie, Individualität und Emanzipation. Es war eine Zeit, geprägt von enormer Härte, Armut und Aufopferung, in der das Land wieder auf ein selbständiges, lebensfähiges Niveau gebracht werden sollte. Die Okkupation endete 1952. In den sechziger Jahren erlebte Japan ein phänomenales wirtschaftliches Wachstum und fand sich seit den achtziger Jahren in der globalen Vernetzung mit politischen Skandalen, Finanz- und Bankenkrisen konfrontiert.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der japanische Film, erlebte in den wilden zwanziger und dreissiger Jahren eine aufregende und äusserst innovative Zeit, die als erste Hochblüte in die japanische Filmgeschichte einging. Junge Regisseure absorbierten mit Begeisterung Filme aus dem Westen und experimentierten mit neuen Techniken, um ihren persönlichen Stil zu finden. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs war fatal. 1939 erliess das Militärregime ein Gesetz, um die gesamte Filmindustrie unter seine Kontrolle zu bringen und sie für propagandistische Zwecke zu nutzen. Linke Tendenzfilme wurden ebenso verboten wie Filme, die westliche Ideale von Demokratie oder Individualismus vertraten. Historiendramen entkamen der Zensur etwas leichter, enthielten mitunter sogar sozialkritische Botschaften. Letztlich blieb den Regisseuren keine andere Wahl, als zu schweigen oder Filme mit patriotischen Untertönen zu realisieren. Nach der Kapitulation erholte sich die japanische Filmindustrie rasch. Allerdings mussten ihre Filme nun von der Zensurbehörde der alliierten Besatzungsmacht genehmigt werden. In den fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre erlebte der japanische Film seine zweite Hochblüte. Ausserdem zeichnete sich eine neue Generation von Filmemachern ab, die sich gegen das «cinéma de papa» auflehnte und unter dem Namen «Nuberu Bagu» (Nouvelle Vague) unabhängige Produktionen realisierte. Die Filmreihe im Filmpodium wirft am Beispiel einiger Klassiker von Sadao Yamanaka, Yasujiro Ozu und Kenji Mizoguchi aus der turbulenten Vor- und Nachkriegsphase Schlaglichter auf das japanische Kino.

Sadao Yamanaka
Als Sadao Yamanaka 1937 Ninjo kami fusen – Humanity and Paper Balloons drehte, befand sich Japan in einer tiefen Depression. Das Militärregime hatte die Macht übernommen und der Krieg mit China begann. Wie alle Filme von Yamanaka ist Humanity and Paper Balloons ein «jidaigeki» (Historiendrama), unterscheidet sich aber von den damals gängigen Historienfilmen. Die Stoffe wurden vorwiegend der feudalistischen Edo-Zeit (1603–1868) entnommen, mit Helden als willensstarke, kampferprobte Samurai, die ihre Gegner in flamboyanten Schwertduellen bezwangen. Auch Yamanaka drehte anfänglich leichte Unterhaltungsfilme wie die irrwitzige Komödie Tange Sazen and the Pot Worth a Million Ryo (1935). Humanity and Paper Balloons fehlt diese Leichtigkeit – er ist dunkel und pessimistisch. Der 1909 geborene Regisseur und Drehbuchautor porträtiert aus humanistischer Sichtweise äusserst realistisch das Leben von Händlern, Gangstern, Glücksspielern und herrenlosen Samurai in den engen Gässchen eines armen Wohnviertels in der Edo-Zeit. Yamanaka zeigt den Kollaps eines rigiden, hierarchischen Klassensystems und verzichtet dabei auf übliche Klischees des damaligen Historienfilms. Das letzte Bild des treibenden Papierballons, der in der Wasserrinne landet, deutet auf die fragile Existenz der Menschen hin, die, von rauen Winden gebeutelt, letztlich in der Gosse landen. Eine Allegorie auf das militaristische Vorkriegsjapan? Yamanaka wurde am Tag der Premiere seines Films eingezogen. Kurze Zeit später starb er an der Front in China. Er war 29 Jahre alt. «Ninjo» (Menschlichkeit) ist so fragil wie luftig leichte Papierballons.

Yasujiro Ozu
Nach einer kreativen Experimentierphase während der Stummfilmzeit fand Yasujiro Ozu bereits vor dem Krieg seine eigene, unverkennbare Filmsprache: ungewöhnlich tief positionierte starre Kamera, Ellipsen, feingliedrige Découpage (die wir auch bei Naruse, Shimizu und anderen Regisseuren des Shochiku-Studios finden). Sein Stil ist asketisch, reduziert. Als Kenner und Liebhaber des Hollywood-films war Ozu bestens vertraut mit den Regeln des konventionellen Hollywoodkinos. Doch diese Regeln waren dazu da, sie zu übertreten. In Banshun – Später Frühling (1949) hat er anhand der Beziehung zwischen Vater und Tochter mit dieser Grammatik und der Wahrnehmung des Zuschauers gespielt und die konventionelle Erzähltechnik aufgebrochen. Sein Film nimmt in Bezug auf Ehe und Familie eine liberale Haltung ein, was mit den sich ändernden Familienstrukturen jener Zeit zusammenhängt, möglicherweise auch mit dem Klima der Okkupationszeit (neues Ehegesetz). Das Thema über eine traditionell arrangierte Heirat wäre von der amerikanischen Zensurbehörde, die sich manchmal geradezu paranoid verhielt, zweifelsohne abgelehnt worden. Später Frühling besteht zwar aus einer zentralen Handlung, die jedoch in den Hintergrund tritt, weil sich der Zuschauer in einem Labyrinth zahlreicher Episoden aus dem Alltag verliert. Ozu empfand die Welt als chaotisch und es widerstrebte ihm, Bildfragmente in eine zusammenhängende Geschichte zu pressen, wodurch die Bedeutungsvielfalt verloren gegangen wäre.

Kenji Mizoguchi
Kenji Mizoguchi hat sich zeitlebens für aktuelle Themen wie das Leiden und die Emanzipation der Frauen interessiert. Er liebte aber auch tragische Schicksale aus Romanen der Feudalzeit. Chikamatsu monogatari – Eine Erzählung nach Chikamatsu (1954) zelebriert eine solche Liebe und zeichnet sich durch Mizoguchis extrem langen Einstellungen aus, durch bravouröse Inszenierung der psychologischen Tiefe seiner Figuren und Rückgriffe auf traditionelle japanische Ästhetik. Für seine Historienfilme setzte Mizoguchi das System des «emakimono» (Erzählungen in Rollbildern) filmisch um. Den Effekt des «Entrollens» erzielte er durch einen Linksschwenk der Kamera und Bildkompositionen, die über den Rahmen hinauslaufen. Auch die Vogelperspektive, typisches Merkmal für jene Malerei, wandte Mizoguchi in manchen Historiendramen an. Der Blick von oben vermittelt dabei ein Gefühl von Vergänglichkeit menschlichen Daseins. Diese Perspektive verwendet Mizoguchi manchmal auch, indem er das Dach eines Hauses wie im «emakimono» abhebt, um das Geschehen im Inneren des Hauses zu filmen. Die Beschaffenheit japanischer Häuser ermöglicht es, sich mit der Kamera frei zwischen Innen- und Aussenraum zu bewegen und die Figuren bis in die Tiefe hinein zu inszenieren. Die Verantwortung für diese grandiose Umsetzung, die Verbindung von Realismus und traditioneller Ästhetik, liegt jedoch nicht allein bei Mizoguchi. Massgeblich war sein Kameramann Kazuo Miyagawa daran beteiligt, der nicht nur mit Mizoguchi häufig zusammengearbeitet hat, sondern auch mit Akira Kurosawa (Rashomon) und vielen anderen.
«If the American film is strongest in action, and if the European is strongest in character, then the Japanese film is richest in mood or atmosphere, in presenting people in their own context, characters in their own surroundings», schrieb der amerikanische Journalist, Autor und grosse Japan-Kenner Donald Richie. Sein Diktum mag zu pauschal sein, auf die in dieser Reihe präsentierten Filme trifft es aber zweifellos zu. (Regula König)


Grusswort der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft
Dieses Jahr feiern die Schweiz und Japan ihre 150-jährigen diplomatischen Beziehungen. Um zwischen diesen beiden Nationen das gegenseitige Verständnis weiter zu vertiefen, finden in diesem Jubiläumsjahr in beiden Ländern zahlreiche Anlässe statt.
Die Schweizerisch-Japanische Gesellschaft bemüht sich seit ihrer Gründung im Jahr 1955 kulturelle Brücken zwischen der Schweiz und Japan zu bauen. Zu diesem Zweck bieten wir verschiedene Veranstaltungen an, die den Schweizerinnen und Schweizern die japanische Kultur näherbringen. So führen wir seit mehr als 15 Jahren im Filmpodium Filmmatinéen durch. Filme sind ein Spiegel der Gesellschaft. Durch Filme kann man die Denkweise und die Lebensweise von Menschen anderer Kulturen gut kennen, verstehen und erspüren lernen.
Dieses besondere Jahr bietet uns eine gute Gelegenheit, dem Schweizer Publikum in einem grösseren Rahmen viele interessante japanische Filme vorzustellen. Es ist uns eine spezielle Freude, zusammen mit der Association Suisse-Japon, section Suisse romande und The Japan Foundation ein japanisches Filmfestival veranstalten zu dürfen. Zahlreiche japanische Filme werden von April bis Juni in sieben Städten der deutschen, französischen und italienischen Schweiz gezeigt. Hier in Zürich bedanken wir uns ganz herzlich beim Filmpodium für die Zusammenarbeit. Wir wünschen Ihnen vergnügliche Filmmonate!
(Hinweis zum Rahmenprogramm der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft: «Film & Talk», am 20.+22. Mai, Details unter schweiz-japan.ch)
Kyoko Ginsig, Vizepräsidentin Schweizerisch-Japanische Gesellschaft schweiz-japan.ch

Regula König ist Dozentin für japanische Filmgeschichte an der Universität Zürich.
Da letztes Jahr drei Filme von Akira Kurosawa als Reeditionen im Filmpodium zu sehen waren und wir in diesem Programm seinen Film Ran als Sélection Lumière und im Juli Das Schloss im Spinnwebwald in einer neuen Kopie zeigen, verzichten wir im Rahmen dieser Klassiker-Reihe zugunsten seltener gespielter Werke auf Filme von Akira Kurosawa.