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Sergio Leone: Es war einmal die Revolution

Zu Lebzeiten unterstellte man Sergio Leone gerne und oft schlechten Stil. Heute gilt gerade dieser Stil als revolutionär, und man feiert den Regisseur als Auteur des Genrekinos. Bis dahin allerdings brauchte es Glück, Männer in Sandalen, Akira Kurosawa, eine Handvoll Dollar und den Umweg über die spanische Wüste, wo Leone im staubigen Niemandsland den Italo-Western fand. Am 17. August 1964 gelangte in einem schäbigen Florentiner Vorortskino ein Western mit dem Titel Per un pugno di dollari (engl. A Fistful of Dollars) zur Uraufführung. Vier Jahre waren vergangen, seit Jean-Luc Godard mit À bout de souffle seine quere Lesart von Hollywood-Genrefilmen fruchtbar gemacht und dem Kino eine Frischzellenkur verpasst hatte. Seither hatten die Auteurs der Nouvelle Vague ein ansehnliches Korpus geschaffen, das der Revolution Gewicht und Fahrt verlieh. Die Macher dieser theorieunterfütterten Filme besassen die Deutungshoheit im Diskurs um das Kino der Zukunft. Das Kommerzkino jedoch, wo zur selben Zeit Neues entstand, wurde ausgeblendet.
Wie eine späte Wiedergutmachung würdigten die Cahiers du cinéma, das Zentralorgan der Auteurs, im Jubiläumsheft 1995 jenen 17. August 1964 als einen der unsterblichen Momente der ersten 100 Jahre Kinogeschichte. Dabei startete A Fistful of Dollars, von Sergio Leone (1929–1989) als italienisch-westdeutsch-spanische Koproduktion in Spanien realisiert, ohne viel Aufsehen. Der Film entwickelte sich aber schnell zum Publikumsrenner und begründete das Geschäftsmodell «Italo-Western», obwohl er so ganz anders war als das US-Genrefutter, das die filmbegeisterten Italiener liebten.
Anders als Godard & Co., Fellini oder Antonioni arbeitete Leone im industriellen Genrekino. A Fistful of Dollars war weniger das Ergebnis visionärer Ideen und Reflexionen als vielmehr das Produkt des branchenüblichen Zwangs, das Ewiggleiche als etwas Vertrautes und doch sensationell Neues zu verkaufen. Damals flutete die italienische Billigfilmindustrie die Welt mit trashigen «Sandalenfilmen». Man recycelte dabei jene Kulissenstädte, die die Amerikaner in den fünfziger Jahren für ihre monumentalen Bibelstunden in Rom aufgebaut hatten, und verfügte über erfahrenes Personal – Leone hatte 1951 bei Quo Vadis und 1959 bei Ben-Hur als Second Unit Director mitgewirkt –, so dass bald billige Herkulesfilme im Monatstakt vom Band rollten. Dabei wurde Leone zum Regisseur, der 1959 The Last Days of Pompeii mitinszenierte und 1961 Il colosso di Rodi aus der Taufe hob.

Ein Samurai zieht nach Westen
Zwei Lehren nahm Leone aus dieser Zeit mit: Packe ein sinnenfreudig-albernes Abenteuer mit einem Superman in ein populäres Hollywood-Genre und besetze die Hauptrolle mit einem Yankee. So lockte man die Italiener mit ihrer Liebe zu allem Amerikanischen und verkaufte ihnen Wohlvertrautes in modischer Hülle. Leones Plan, es mit einem Western zu versuchen, dem amerikanischsten aller Genres, war demnach nicht besonders abseitig.
Die Idee zu A Fistful of Dollars kam aus Japan. 1961 brachte Akira Kurosawa den Samuraifilm Yojimbo ins Kino. Ein Jahr zuvor hatte Hollywood dessen Shichinin no samurai (Die sieben Samurai, 1954) erfolgreich als Western – The Magnificent Seven (Regie: John Sturges) – adaptiert. Leone war überzeugt, dass sich auch Yojimbo für einen Transfer eignen würde, insbesondere da er annahm, dass bereits Kurosawas Film eine Übertragung gewesen war. Erinnerte der Plot – zwei rivalisierende Clans werden von einem Einzelkämpfer gegeneinander ausgespielt – nicht an Dashiell Hammetts Krimi «Red Harvest», der wiederum an Carlo Goldonis Komödie «Diener zweier Herren» gemahnte?
Leone kopierte frech Kurosawas Meisterwerk, im Glauben, für diese kulturelle Rückführung nicht zahlen zu müssen (womit er sich einen saftigen Rechtsstreit einhandelte). Als er Produzenten fand, die es mit einem Euro-Western als Ersatz fürs ausgelatschte Sandalen-Genre wagen wollten, gab es eine Handvoll Lire und eine Adresse in der südspanischen Wüste, wo ein paar ausgediente Kulissen warteten.
Im Rückblick wirkt es wie ein Pfingstwunder, dass überhaupt ein Film entstand. Auf dem Set herrschte ein babylonisches Sprachgewirr zwischen Italienern, Spaniern, Deutschen und TV-Cowboy Clint Eastwood, für den – nach Absagen von Henry Fonda, Charles Bronson und James Coburn – einzig seine bescheidene Gage den Ausschlag gegeben hatte. Weil Eastwood vieles vom Pidgin-Englisch des Scripts nicht verstand, strich er eigenmächtig den Grossteil seines Textes. Zurück blieb jener grosse Schweiger, der zur Coolness-Ikone wurde.
Der Leone-Stil ist also aus Not geboren und entsprach zunächst keineswegs den Vorstellungen des Römers von einem italienischen Western. Selbst Ennio Morricone, mit dem sich Leone später in einer «katholischen, also untrennbaren Ehe» verbunden sah, war lange Zeit nur zweite Wahl. Ursprünglich favorisierte der Regisseur eine konventionelle Komposition. Das Revolutionäre an dem von Morricone aus Elementen mediterraner Volksmusik, harten Gitarrenriffs, gepfiffenen Leitmotiven, Maultrommeln und Kojotengeheul kompilierten Soundtrack ging ihm erst später auf.
Kurosawas ritualisierte Schwertkämpfe übersetzte Leone in seine später legendär gewordenen endlos zerdehnten Pistolenduelle, was ihm archaischer erschien als jene Gefechte, mit denen Recht und Ordnung im US-Western durchgesetzt wurden. Das traf sich mit den Forderungen der Geldgeber, die ihn drängten, statt teurer Indianerschlachten billige Showdowns zu inszenieren. Der spanische Ersatz-Wildwest bot in seiner Öde und Abstraktion den idealen Hintergrund, vor dem Leones schmutzige Holzschnittfiguren ihr absurdes Endspiel aufführen konnten.

Vom Kopisten zum Künstler
Verhindert wurde so, dass sich der Italo-Western, nicht wie zuvor die naiven Winnetou-Filme, zu einer Kopie des US-Cowboyabenteuers entwickelte. Diese Bastardgeburt war etwas, das die Welt noch nicht gesehen hatte. Vorerst nahm die Kritik kaum Notiz, doch das Publikum liebte, was es sah, und wollte mehr. Bald zogen Legionen nach Almería, um dort Italo-Western zu drehen. Sie kopierten, fledderten und fanden bisweilen zu eigenem Stil und eigener Politik. Als dann zehn Jahre und 500 Filme später – inzwischen war das Genre als Komödienstadl auf den Hund gekommen – nichts mehr rauszupressen war, zog die Karawane weiter.
Leone aber blieb, sieht man von Once Upon a Time in America (1984) ab, dem Western zeitlebens treu. Im Gegensatz zum bald stagnierenden Industrie-Italo-Western entwickelte und verfeinerte er die Stilelemente weiter. Zusehends selbstbewusster und ausgreifender zersägte er die Mythen des US-Western und verband die Trümmer mit populären Traditionssträngen, die von der Odyssee über den Pikaro-Roman, die Commedia dell‘Arte und den Grand Guignol bis hin zur italienischen Oper reichten. Er popularisierte Erzählformen der Nouvelle Vague und flirtete gleichzeitig mit Politik, Kitsch, Camp und Comicstrip, bis sich die Elemente zum postmodernen «Gesamtkunstwerk» fügten, als welches es bis heute in Kunst und Kommerz weiterwirkt.
Benedikt Eppenberger

Benedikt Eppenberger ist Filmredaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen und arbeitet daneben als freischaffender Filmjournalist und Cartoonist.