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Jean-Claude Carrière: Der Schattenmann

Der französische Schriftsteller Jean-Claude Carrière (*1931) wurde in den 1950er Jahren von Jacques Tati überredet, seine Filmkomödien als Romane zu adaptieren. Daraufhin verlegte sich Carrière aufs Drehbuchschreiben und wurde einer der vielseitigsten Vertreter dieser Zunft. Illusionen machte er sich dennoch keine: «Wer Ruhm erstrebt oder sich ein Denkmal setzen lassen will, soll keine Drehbücher schreiben. Der Autor verschwindet; er arbeitet im Schatten.» Die Filmpodium-Retrospektive rückt Carrière ins Rampenlicht. Im Verlauf ihrer zweieinhalb Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit bekamen Luis Buñuel und Jean-Claude Carrière überraschenderweise nur einmal nennenswerte Schwierigkeiten mit der Zensur, bei Belle de jour. Die Zurückhaltung, die die Behörde sonst zeigte, ärgerte den Regisseur ungemein. Als gelernter Surrealist hielt er es für ein schlechtes Zeichen, wenn seine Filme keinen Skandal mehr auslösten.
Dank der Strenge der Zensoren ist Belle de jour nun der einzige Film des Gespanns Buñuel-Carrière, in dem die Religion keine Rolle spielt. Ursprünglich hatten die zwei bibelfesten Ketzer eine Szene geschrieben, die eine nekrophile Zeremonie zeigt. Sie wurde gekürzt, weil sie das Empfinden der Zuschauer zu sehr hätte verletzen können. Carrière selbst tritt in ihr als Priester auf, der eine Messe vor der Christusfigur von Matthias Grünewald zelebriert. Schon in Le journal d'une femme de chambre war der Drehbuchautor, den die Macht der Kirche gleichermassen empört wie fasziniert, mit sichtbarem Vergnügen in die Rolle eines Pfarrers geschlüpft.
Aber nicht nur das Hadern mit ihrer katholischen Erziehung verband die beiden. Buñuel wählte Carrière aus einer ganzen Reihe von Drehbuchautoren aus, weil dieser zuvor mit den Komikern Jacques Tati und Pierre Étaix gearbeitet hatte. Sie teilten die Liebe zur amerikanischen Slapstickkomödie, vor allem zu Buster Keaton. Bei jedem Drehbuch versuchten sie, eine Sahnetorte unterzubringen, die einer Figur ins Gesicht geworfen würde (was ihnen letztlich aber nie gelang). Nicht unwichtig war für Buñuel auch, dass sein neuer Partner einen Dokumentarfilm über das Sexualleben der Tiere geschrieben hatte, was ihn brennend interessierte. Der angloamerikanische Kritiker David Thomson bezeichnete Carrière einmal als Engel, durch den der Regisseur zum Surrealismus zurückfand. Er selbst sieht seine Rolle profaner: Er habe Buñuel meist nur geholfen, Buñuel zu sein.

Ungeahnte Wandlungsfähigkeit
Ohne diesen Szenaristen würde das, was man den europäischen Autorenfilm nennt, zweifellos ganz anders aussehen. Er hat mit höchst unterschiedlichen Regietemperamenten wie Patrice Chéreau, Jean-Luc Godard, Michael Haneke, Volker Schlöndorff und Andrzej Wajda gearbeitet. Dabei hat er ihnen nicht nur geholfen, sie selbst zu sein. Er fungiert nicht nur als ihr Komplize, sondern auch als Gegenpol, als notwendige Opposition. Ob er sich dabei manchmal wohl wie Cyrano fühlt, der einem anderen die Verse einflüstert, mit denen dieser das Publikum verzaubert?
Wer einmal mit ihm gearbeitet hat, bleibt ihm treu. Sein Savoir-faire ist verführerisch. Es gibt wahrscheinlich keinen zweiten Szenaristen, der Regisseuren so viel Vertrauen und Zuversicht einflösst wie Carrière. Er hat als unverfilmbar geltende Romanvorlagen von Günter Grass (Die Blechtrommel), Marcel Proust (Un amour de Swann) und Milan Kundera (The Unbearable Lightness of Being) adaptiert. In seinem mittlerweile rund 140 Kino- und Fernsehfilme umfassenden Werk finden sich aber auch raffinierte Psychothriller (La piscine), nostalgische Gangsterfilme (Borsalino), espritvoll-melancholische Mantel-und-Degen-Stücke (Cyrano de Bergerac) und burleske Komödien. Seine Filmografie zeugt von einer einzigartigen Geschmeidigkeit. Sie kennt keine snobistischen Hierarchien. An die Arbeit mit einem Genreveteranen wie Jacques Deray geht er mit ebenso viel Elan und Raffinesse heran, wie er es bei einem Buch für Milos Forman tut.
In Sachen Vielseitigkeit (zumal auf so hohem Niveau) konnte es allenfalls noch sein italienischer Kollege Tonino Guerra mit ihm aufnehmen, der von sich sagte, er habe für jeden Regisseur ein anderes Gesicht aufgesetzt. Das ist auch für die Arbeit Carrières keine schlechte Metapher: Wenn er in den 1960er Jahren ein Drehbuch für Buñuel beendet hatte, um sich dann mit Étaix einem ganz anderen Register zuzuwenden, sagte der Komiker oft zu ihm: «Du hast dich verändert, du bist nicht mehr der Gleiche.» Eine solch fruchtbare Wandlungsfähigkeit wirft die Frage auf, ob Carrière nicht in erster Linie ein charismatischer Handwerker ist. Tatsächlich sucht man vergeblich nach einem «eigenen» Thema – abgesehen vom anti-klerikalen Furor, der sich auch jenseits von Buñuel in seinen Szenarien Bahn bricht –, das sich durch sein gesamtes Werk zieht.
Seine persönliche Handschrift manifestiert sich vielmehr in einer bestimmten Erzählhaltung: Er nimmt den Zuschauer als Erwachsenen ernst, scheut Sentimentalität oder bequeme Ironie. Ihn fasziniert das Geschichtenerzählen als Akt der Sinnstiftung. Er verfügt über eine geradezu enzyklopädische Kenntnis der Erzähltraditionen des Okzidents wie des Orients. In seinen Lehrbüchern «Praxis des Drehbuchschreibens» und «Der unsichtbare Film» legt er akribisch Rechenschaft ab über die Quellen seines eigenen Metiers. In seinen Filmen mit Étaix erforscht er systematisch die Regeln, nach denen Gags funktionieren. Seine Arbeit mit Buñuel verrät die Lust an der Variation, an der Überprüfung und Umdeutung von Erzählkonventionen. La voie lactée greift das Genre des Schelmenromans auf; Le charme discret de la bourgeoisie spielt mit Elementen des Boulevardtheaters – man denke nur an die zahlreichen Auf- und Abgänge. Gemeinsam unterlaufen die Filmemacher die Gebote erzählerischer Logik und Geschlossenheit und öffnen die Konstruktion für einen listigen Assoziationsreichtum. In Le fantôme de la liberté düpieren sie konsequent die Erwartungen der Zuschauer, indem sie ihre narrativen Versprechen nie einhalten: Unweigerlich lassen sie jeden Erzählfaden abreissen und ersetzen ihn durch einen neuen, den das gleiche Schicksal ereilt.

«Der entfernte Blick» als Erzählprinzip
Ein entscheidendes Merkmal von Carrières Erzählkunst ist die Fremdperspektive. Carrière selbst nennt dieses Erzählprinzip den «entfernten Blick». Er wählt einen Blickwinkel, der nicht in dem Milieu, der Kultur verankert ist, in welcher die Geschichten angesiedelt sind. Daraus erwächst eine besondere Aufmerksamkeit, zumal für Alltagsdetails. Taking Off ist nicht zuletzt deshalb eine so dichte atmosphärische Studie des New Yorker Mittelstands in den frühen 1970er Jahren, weil der Drehbuchautor Franzose ist und der Regisseur Milos Forman Tscheche. Für Milou en mai wählen Louis Malle und er die Perspektive der Provinz, um von den Erschütterungen des Pariser Mai '68 zu erzählen. Sein Pendant findet dieser Film in The Unbearable Lightness of Being, der vor dem Hintergrund des Prager Aufstands im gleichen Jahr spielt. In Birth schliesslich entwirft Carrière zusammen mit dem britischen Regisseur Jonathan Glazer ein stimmiges Sittenbild der Aristokratie in New Yorks Upper East Side, wobei der Blick geschärft wird durch den transatlantischen Abstand.
Dieser Trick funktioniert natürlich nur, weil der Autor neben der Neugier auf das Fremde auch Weltläufigkeit und Menschenkenntnis besitzt. Das Milieu der Buñuel-Filme wirft in dieser Hinsicht indes ein beachtliches Problem auf, denn sie spielen in der Welt der Bourgeoisie, welcher Autor und Regisseur selbst angehörten. Aber das brachte sie nicht in Verlegenheit. «In unseren Filmen ging es immer darum», sagte Carrière einmal, «eine Komplizenschaft mit dem Zuschauer herzustellen, ohne dass die Figuren es merken.»
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.