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Seijun Suzuki: Opulenz und Exzentrik

Bis in die achtziger Jahre war das Werk von Seijun Suzuki (*1923) ausserhalb Japans weitgehend unbekannt. Seine produktivste Zeit erlebte er in den sechziger Jahren, doch erst Retrospektiven etwa am Filmfestival von Pesaro 1984 oder die internationale Tournee «Branded to Thrill: The Delirious Cinema of Suzuki Seijun» im Jahr 1994 machten auch das westliche Publikum auf das Schaffen dieses grossen B-Regisseurs und Meisters des Yakuza-Films aufmerksam. Zurzeit befindet sich sein einzigartiges Werk wieder auf Reisen; wir freuen uns, eine Auswahl von elf herausragenden Filmen präsentieren zu können. 1912 wurde das erste japanische Filmgrossstudio Nikkatsu gegründet. In der äusserst wechselvollen Geschichte des Studios stechen zwei Perioden besonders hervor: die späten 1930er Jahre, in denen die Filme von Nikkatsu vieles von dem vorwegnahmen, was einige Jahre später in Europa als Neorealismus gefeiert wurde, und die Zeit von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, in denen Genrefilme im Zentrum standen.
Während der Besatzungszeit fungierte Nikkatsu als Verleiher amerikanischer Filme, die einen wichtigen Einfluss ausübten, als das Studio 1954 seine Produktion wieder aufnahm. Eine Reihe Filmschaffender wurde von der Konkurrenz abgeworben, darunter von Shochiku die beiden Regieassistenten Shohei Imamura und Seitaro Suzuki. Beide repräsentierten die duale Struktur der japanischen Studios jener Zeit. Das wöchentlich wechselnde Doppelprogramm bestand aus einem Haupt- und einem Begleitfilm; ersterer war Starvehikel und stand im Zentrum der Aufmerksamkeit von Presse und Kritik, letzterer bediente in erster Linie die Interessen des Publikums. Während Imamura rasch zum auch international gefeierten A-Picture-Regisseur aufstieg, blieb Seijun Suzuki, wie er sich seit 1958 nannte, dem B-Picture verpflichtet. Sein Regiedebüt gab er 1956, es folgten in hoher Kadenz Genrefilme, vor allem Actionfilme, in denen Suzuki sein Handwerk weiterentwickeln und seinen Stil reifen lassen konnte. Einen ersten Höhepunkt erreichte dieser 1963 in Youth of the Beast (Yaju no seishun). Im selben Jahr lernte Suzuki den Set-Designer Takeo Kimura kennen, mit dem als kongenialem Partner er seinen visuellen Stil weiter verfeinerte.
Konventionen und Regeln gab es für Suzuki nur mehr, um sie zu brechen. Narrative Logik trat zugunsten von stilistischem Exzess in den Hintergrund. Tokyo Drifter (Tokyo nagaremono, 1966) etwa ist geprägt durch exzentrische Kameraeinstellungen, eine opulente Farbästhetik, flamboyante Stilisierungen und exaltierte Manierismen. Die Filme sorgten bei den Studiobossen zunehmend für Verwirrung, bis ihn Nikkatsu 1968 nach Branded to Kill (Koroshi no rakuin) wegen angeblicher Unverständlichkeit schliesslich feuerte.
Suzukis Entlassung stellte einen entscheidenden Wendepunkt dar, denn obwohl er in den folgenden zehn Jahren keine weiteren Kinofilme mehr drehen konnte, setzte gleichzeitig die kritische Würdigung des bislang von der Filmkritik weitgehend ignorierten Filmemachers ein. Bemerkenswert ist, dass diese «(Neu-)Entdeckung» von Suzuki als einem der herausragenden Stilisten des Weltkinos von Cineasten ausging, die sich nach Suzukis Entlassung zu einem Kampfkomitee zusammenschlossen und Protestaktionen gegen Nikkatsu organisierten, wo Suzukis Filme unter Verschluss gehalten wurden. In dem Konflikt, der auch vor Gericht ausgetragen wurde, wurden nicht nur die Filmbesitzrechte des Studios in Frage gestellt, sondern es wurde erstmals auch ein Anspruchsrecht der Zuschauer auf die Verfügbarkeit von Filmen erhoben.
Nach einer Durststrecke, während der er sich mit Arbeiten für das Fernsehen und Werbefilmen sowie als Essayist über Wasser hielt, konnte Suzuki in den 1980er Jahren als unabhängiger Filmemacher mit der sogenannten «Taisho-Trilogie» – Zigeunerweisen (Tsigoineruwaizen, 1980), Heat Shimmer Theater (Kagero-za, 1981) und Yumeji (1991) – ein beeindruckendes und hochkomplexes Spätwerk realisieren, das auch auf internationalen Festivals Anerkennung fand. In den 1990er Jahren arbeitete Suzuki vornehmlich für das Fernsehen, trat gelegentlich aber auch in kleinen Rollen in Filmen von Kollegen auf. Nach der Jahrtausendwende kehrte er für zwei Filme noch einmal ins Kino zurück, für Pistol Opera (Pisutoru Opera, 2001), ein Remake seines mittlerweile zum Kultfilm avancierten Branded to Kill, sowie für Princess Raccoon (Operetta tanuki goten, 2005), ein weiteres Remake einer Musical-Vorlage von Keigo Kimura, die zwischen 1939 und 1959 schon mehrmals verfilmt worden war. Mit diesem Musical erfüllte sich Suzuki, der in seiner Jugend stark von amerikanischen und europäischen Musikfilmen beeinflusst wurde und Erik Charells Der Kongress tanzt (1931) stets zu seinen Lieblingsfilmen zählte, am Ende seiner langen Karriere einen Herzenswunsch. Danach zog er sich aus gesundheitlichen Gründen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Im Mai 2013 feierte er seinen 90. Geburtstag.
Roland Domenig

Ein Programm in Zusammenarbeit mit der Japan Foundation Tokyo und dem Japanischen Kulturinstitut Köln.
Quelle der Kurztexte, wo nicht anders vermerkt: Programmheft Filmmuseum München.