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Stummfilmfestival: Filmjugendliches Feuerwerk

Zum elften Mal widmet das Filmpodium dem Stummfilm ein Festival. Seit 2012 bildet es im Januar zugleich den Auftakt zur permanenten Filmgeschichtsreihe «Das erste Jahrhundert des Films». Die Jahrgänge 1914 und 1924 sind diesmal der Programmschwerpunkt innerhalb eines Festivalangebots, das mit einer Reihe weiterer visueller und musikalischer Highlights aufwartet. Die Zehnersprünge erlauben jeweils eine Art Bilanz, wie sich das Kino im dazwischenliegenden Jahrzehnt verändert hat. In der Zeit der jungen, sich rasant entwickelnden Kinematografie sind es Riesenschritte. Den vollen Genuss des Ideen- und Formenreichtums, mit dem uns die Filme der ersten Jahrzehnte beglücken, verbaut man sich jedoch, wenn man in ihm nur eine «primitive» Vorstufe zu den visuellen und narrativen Standards des späteren Tonfilms sieht. Das Fehlen einer synchronen Tonaufzeichnung und die dadurch bedingte «Stummheit» der Figuren standen in eklatantem Kontrast zur Realitätsillusion, wie sie die Fototechnik der Filmkamera mit ihrer getreuen Abbildung der äusseren Wirklichkeit schuf. So bewegten sich die Filme der Stummfilmzeit permanent in diesem Spannungsfeld zwischen der «pantomimischen» Künstlichkeit und dem fotografischen Naturalismus. Daraus entstanden Ausdrucksformen, die teilweise zu höchster künstlerischer Perfektion entwickelt wurden. Nach dem Einzug des Tons gerieten sie jedoch weitgehend in Vergessenheit – das Stummfilmfestival lässt erahnen, wie viel da verloren ging.
Die berühmteste, bis heute beliebte Stummfilmgattung war der US-amerikanische Slapstick, vor allem in seiner raffiniertesten Spielart, wie wir sie in den fast tänzerisch eleganten Pantomimen Chaplins finden (dessen erste Filmauftritte 1914 stattfanden und der 1924 mit The Gold Rush eines seiner Meisterwerke drehte). In der Sowjetunion suchten derweil junge Filmschaffende auf ihre Weise nach Wegen, im Kino den vom Theater herrührenden naturalistischen Schauspielstil zu überwinden. Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg etwa gründeten die «Fabrik des exzentrischen Schauspielers» (FEKS); in ihrem Film Der Mantel (1926) erscheint das hoch artifizielle Spiel der aus dieser Schule hervorgegangenen Darsteller ebenso sehr vom Zirkus beeinflusst wie vom deutschen Expressionismus.
Was in den Stummfilmjahren kontinuierlich erweitert und perfektioniert wurde, sind die filmischen Techniken und ihre künstlerische Anwendung. Bei aller Willkürlichkeit, die den Jahrzehntsprüngen anhaftet, sind sie doch im diesjährigen Stummfilmfestival von besonderer Bedeutung: Cabiria (Italien 1914) stand am Anfang einer Entwicklung, die mit Der letzte Mann (Deutschland 1924) ihre entscheidende letzte Stufe erklomm: Die Kamera löste sich aus den Fesseln des Stativs und verabschiedete sich vom unveränderlichen Blickpunkt des Theaterzuschauers in der 7. Reihe. Nicht, dass sie das zuvor nie getan hätte: Schon die Lumière-Kameraleute stellten ihren Apparat mal auf die Plattform einer Strassenbahn oder bestiegen damit ein Schiff, die Fahrt dieser Vehikel für erste «Travellings» nutzend. Die wachsende Beweglichkeit der Kamera resultierte nicht nur aus technischen Neuerungen, sie ging einher mit der zunehmenden Vertrautheit des Publikums mit der Variation filmischer Einstellungsgrössen und dem dadurch wachsenden Vertrauen der Filmemacher in die Bereitschaft der Zuschauer, solche Standpunktveränderungen zu akzeptieren.
1914 war es für die Filmregisseure Standard, eine handelnde Person dem Zuschauer dadurch näherzubringen, dass diese sich auf die Kamera zubewegte, oder durch einen Schnitt, der es erlaubte, die Kamera zwischen den Takes näher bei den Darstellern aufzustellen. Die Neuerung in Cabiria bestand in einem «carrello», der es der Kamera ermöglichte, in einer diagonal zum Dekor verlaufenden Fahrt dieses und die davor agierenden Darsteller nach und nach grösser ins Bild zu bringen. In den USA machten diese Fahrtaufnahmen derart Furore, dass man sie in der Folge als «Cabiria movement» bezeichnete; ihr Einfluss lässt sich bei David W. Griffith wie Cecil B. DeMille nachweisen. So ist Giovanni Pastrones Monumentalfilm nicht zuletzt für die erste systematische Verwendung des «Travellings» als filmisches Gestaltungsmittel in die Filmgeschichte eingegangen.
Friedrich Wilhelm Murnau und sein Kameramann Karl Freund haben zehn Jahre später diese Kamerabewegungen konsequent zur Gestaltung von Der letzte Mann eingesetzt und sich darüber hinaus neue ausgedacht: die Kamera, die den Helden umkreist oder an einer Art Seilbahn zwischen dem Fenster eines Mietshauses und dem darunterliegenden Hof vermittelt. Ihre «entfesselte Kamera» wurde zu einem weiteren Meilenstein in der Entwicklung der Filmtechnik und ihres kreativen Einsatzes.
Die Bereicherung der gestalterischen Möglichkeiten sollte man, so augenfällig ihre Resultate im Einzelfall sein mögen, nicht unbedingt gleichsetzen mit Fortschritt im Sinn künstlerisch stärkeren Ausdrucks. Dies zu verdeutlichen gehört zu den Reizen des Vergleichs, zu dem der Blick auf den Filmjahrgang 1924 einlädt. So ist das schwedische Epos Gösta Berlings saga – abgesehen von den Schlittenfahrten – noch grösstenteils mit unbewegter Kamera gedreht, und doch beeindrucken Mauritz Stiller und sein Kameramann Julius Jaenzon mit unglaublicher Intensität. In Hollywood war man dafür nicht blind: Stiller und etwas später Murnau gehörten zu den europäischen Talenten, die nach Amerika wegengagiert wurden. Wie auch ihre Darsteller Emil Jannings und Greta Garbo.
Ob bewegt oder statisch, ob in stilisierter Künstlichkeit oder abbildender Realitätsillusion, ob komisch oder tragisch, all diese Filme, vom Kammerspiel bis zur Monumentalhistorie, werden in der Aufführung erst zum lebendigen heutigen Erlebnis durch die Musikbegleitung. Für diese hat das Filmpodium – neben seinen bewährten hochkarätigen Hauspianisten – einmal mehr einige der weltweit besten Spezialistinnen und Spezialisten engagiert, die solo, zu zweit oder als kleines Orchester auftreten. Sie sorgen dafür, dass die Kinobegegnung mit der «stummen» Filmkunst auf der Leinwand zum einmaligen Live-Erlebnis wird.
Martin Girod