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Carte blanche Andreas Furler: Trouvaillen eines Trüffelschweins

Dreizehn Jahre lang war Andreas Furler Co-Leiter des Filmpodiums, per Januar 2014 wechselt er zum Verleih Trigon-Film. Aus den rund 5000 Filmen, die er seit Dezember 2000 fürs Filmpodium mit ausgewählt hat, zeigt er zum Abschied eine kleine Auswahl von Entdeckungen, die er seiner Arbeit fürs Filmpodium verdankt. Je länger sich jemand beruflich mit Filmen beschäftigt, desto quälender wird für ihn die Frage, die unvermeidlich immer wieder einmal gestellt wird: Welches sind denn deine Lieblingsfilme? – Meine Lieblingsfilme?! Die Frage löst in meinem Kopf jedes Mal bestürzte Leere aus, bestenfalls ein Kuddelmuddel von Titeln, die sicher gerade nicht meine Lieblingsfilme sind, oder mindestens nicht jene, die mir aus unerklärlichen Gründen teurer sind als 1000 andere Meisterwerke.
Panik also! Was geht vergessen, wenn ich jetzt einfach ein paar Standards wie Otto e mezzo, Vertigo oder Trouble in Paradise ausspucke? Wobei: Was ist daran auszusetzen? Kann man bei einem Film wie Otto e mezzo denn je etwas anderes tun, als sturzbetroffen vor seiner Kühnheit, seinem Charme und Witz, seiner Melancholie und Schönheit in die Knie zu sinken? Natürlich ist das ein Film für die Insel, genauso wie Manhattan (der erste Film, in dessen Hauptdarstellerin ich mich heillos verliebt habe), Rashomon (der erste, über den ich mich seitenlang verbreitet habe), Raging Bull (der erste, um den herum ich eine Retro bastelte), L‘eclisse (alle drei obigen Kriterien zutreffend) oder Citizen Kane (keines der obigen Kriterien zutreffend, doch genau so grossartig). Zu meiner Zeit als Filmkritiker habe ich mich gegen die leidige Lieblingsfilmfrage noch mit einer derartigen Fixsternliste gerüstet; heute, dreizehn Jahre und schätzungsweise zehntausend Kinostunden später, fürchte ich, dass auch ein Leintuch nicht mehr dafür ausreichen würde.
Keine absoluten, ohnehin nimmer eruierbaren Lieblingsfilme also umfasst diese Abschieds-Carte-blanche, sondern ausschliesslich solche, die ich nicht kannte, bevor ich zum Filmpodium kam, und die ich dank dem Filmpodium erst für mich entdeckt habe. Der Reigen begann 2001 mit einem mir gänzlich unbekannten Filmemacher aus der DDR, den mein filmgeschichtsfesterer Kollege Martin Girod zu meiner Beunruhigung gleich mit Koni titulierte (ja, gemeint ist Konrad Wolf beziehungsweise sein autobiografischer Weltkriegsfilm Ich war neunzehn), doch schon eine Programmstrecke später stiess ich im Alleingang auf ein weiteres unvergessliches Werk mit einem «Ich» im Titel: Ich liebte sie (Drei Romanzen), der dokumentarische Essay des Russen Viktor Kossakovsky über die Allmacht der Liebe in drei Lebensaltern und das herzzerreissende Drama, wenn letztere zurückgewiesen wird oder scheitert.
So ging es dreizehn Jahre lang: Ich führte das Leben eines Trüffelschweins, das sich gegen Entgelt von den tiefsten Sedimenten bis zu den taufrischen Ablagerungen der Filmgeschichte durchwühlen durfte. Als sich diese Zeit des wohligen Wühlens im Sommer dieses Jahres nun absehbar dem Ende zuneigte und ich mir erstmals einen Überblick über die angesammelten Trouvaillen zu verschaffen versuchte, umfasste die resultierende Liste bald wieder neunzig Filme. Das Eindampfen von Listen bzw. das Streichen «nicht zwingender» Titel allerdings ist nach dem grossen Sichten ja die Quintessenz des Programmgeschäfts – wozu die ewige Sucht von uns Programmmachern nach Gesamtwerkschauen, wenn selbst Giganten wie Billy Wilder oder Ingmar Bergman reihenweise Zweitrangiges gedreht haben?
Selbst die fünfzehn Fundstücke, die nach dem grossen Aussieben noch in dieser Auswahl verblieben sind, vermitteln aber hoffentlich einen Eindruck von der Fülle und Bandbreite des Grossartigen, das im Filmpodium jahrein, jahraus über die Leinwand flimmert. Einen zusätzlichen Liebling (drei Folgen der amerikanischen Fernsehserie The West Wing) habe ich reingeschmuggelt, weil ich jahrelang vergeblich nach einer günstigen Gelegenheit gesucht habe, ihn in einer unserer Reihen unterzubringen. Trüffelschweine haben nun einmal eine Mission; die meine gilt ab morgen wieder dem Gegenwartskino. Schon übermorgen aber sitze ich wieder im Filmpodium, um mir ein paar Stummfilme mit berückender Livebegleitung anzusehen. Der eine oder andere Trüffel wird sicher darunter sein!
Andreas Furler