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Robert Bresson: Kino der Askese

«Asketenexzesse» nannte die Filmkritikerin Frieda Grafe seine Werke. Nur 13 Spielfilme hat Robert Bresson (1901–1999) in knapp 50 Jahren geschaffen – und avancierte mit filmgeschichtlichen Meilensteinen wie Un condamné à mort s'est échappé, Au hasard Balthazar und zuletzt L'argent zum herausragenden Vertreter des internationalen Kinos der Autoren. Mit der ihm eigenen stilistischen Klarheit und strengen Inszenierung, die er durch Reduktion und Konzentration erreichte, strebte Bresson nach einem Kern des Wahren. Alles Überflüssige ist aus seinen Filmen verbannt. Das Filmpodium lädt zur Wiederentdeckung des grossen französischen Visionärs, Analytikers und Poeten und zeigt in einer umfassenden Retrospektive zwölf seiner Meisterwerke. Noch sein letzter Film hatte einen Tumult provoziert: Mit einer schon beeindruckenden Wut, weil möglicherweise ein kollektiver Nerv getroffen war, reagierte das Festivalpublikum 1983 in Cannes auf die Auszeichnung von Robert Bressons letztem Film L'argent für die Beste Regie (zusammen mit Andrej Tarkowskij für Nostalghia). Bresson, der bekennende Christ, hatte einen scheinbar unchristlichen Film präsentiert. Hatte sich dabei erneut radikal dem «Kino» verweigert und «Film» puristisch auf die Spitze getrieben. Spielerisch kann man sich ja mal ausmalen, was heute, knapp dreissig Jahre danach, an der Croisette passieren würde: Hysterisches Gelächter? Dumpfes Schweigen vielleicht? Mit dem offenen Mund nicht der Betroffenheit, sondern des schieren Unverständnisses einem fernen Stern gegenüber, dessen Licht für die meisten überhaupt gar nicht mehr wahrzunehmen ist?

Notwendige statt schöne Bilder
Da wäre also heute – trotz Verehrung von Tarkowskij bis Haneke – einer vollends aus Zeit und Traktanden gefallen, wo sich auf der Kinoleinwand die Special Effects immer bewusstloser überbieten? Vielleicht auch nicht. Vielleicht kann man Bressons mit gut einem Dutzend Filmen recht schmales Œuvre just heute offen als das bestaunen, was es ist: aufregende Demonstration dessen, was Film sein kann, wenn mit seinem innersten Gesetz Ernst gemacht wird. Dieses meint die banale, aber grundlegende Einsicht, dass der Film nicht auf der Leinwand, sondern erst im Kopf und im Herzen des Zuschauers lebendig wird. Dafür ist der Franzose vielleicht der Prüfstein geblieben und legitimiert jede Retrospektive.
In seinen «Notes sur le cinématographe» (1975, auch auf Deutsch neu aufgelegt) hat er das Wesentliche gesagt. Da forderte er «notwendige» statt schöner Bilder und geisselte den «cartepostalisme» des gängigen Kinos, das abgefilmtes Theater vorführe. Darum arbeitete er bald nicht mehr mit Schauspielern, sondern mit Laien, von ihm sogenannten «Modellen», die keinen autonomen darstellerischen Status haben, sondern als quasi unbeschriebenes Blatt Reinheit verkörpern sollen: «Du diktierst ihm Gesten und Worte. Es gibt dir dafür eine Substanz» – eine Praxis, die manchmal auch nicht glückte, wie etwa im späten «Öko»-Film Le diable probablement (1977). Bresson wollte Emotionen nicht dramatisch vorführen, sondern diese gerade durch Widerstand gegen sie evozieren. Dabei hat er das Prinzip mit dem Klavierspiel Dinu Lipattis verglichen: Dieser «haut nicht die Emotion in die Tasten, er wartet auf sie», und zwar über das Anschlagen unerbittlich gleicher Noten.
Und so erstaunt schliesslich schon gar nicht mehr, dass Robert Bresson nicht «Filmemacher» genannt werden wollte, nicht «Regisseur», nicht «director», «réalisateur» oder «metteur en scène». Hingegen gefiel ihm die Charakterisierung eines Freundes – «metteur en ordre»: «Ich nehme Reales, Stücke vom Realen, die ich dann in eine bestimmte Ordnung bringe.» Darum sprach er auch nicht vom Kino, sondern vom «Kinematografen» – Film verstanden als eine Art Schreibprozess, «das Bild vergleichbar dem Wort innerhalb eines Satzes». Nein, Manie und Manierismus waren ihm nicht fremd. Mit seiner Bildsprache hat er Fundamentales neu erschlossen: das Geheimnis der Montage, das er erstmals in Un condamné à mort s'est échappé (1956) zur Meisterschaft entwickelte. 1940/41 war er, der sich ursprünglich der Malerei hatte zuwenden wollen und über René Clair zum Film kam, 18 Monate lang in einem deutschen Kriegsgefangenenlager interniert. Da liegen wohl die Wurzeln zu dem legendären, auf dem Bericht eines Résistance-Mitglieds basierenden Film. Entschieden peilte Bressons Montage von der Innenwelt her unsere Sinne an: in einem fragmentierenden, die Wahrnehmung am Detail schärfenden Schnitt von rund 600 Einstellungen.

Ein Meister der Montage
Montage, das eigentlich cineastische Prinzip von Verbindung und Auslassung, ist viel mehr als Addition. Insofern sind Bressons Werke Film pur, und wären sie nicht in einem auch philosophischen Sinne so radikal, wollte man da und dort von Bravourstücken sprechen. Denken wir nur an die berühmte Taschendiebstahl-Sequenz in Pickpocket (1959), in der das Diebesgut elegant von einer Hand in die andere gleitet, oder an das Ritterturnier in Lancelot du Lac (1974) und den Serienmord in L'argent (1983). Das sind im wörtlichen Sinne Fugen, und interessanterweise hat Bresson, der «metteur en ordre», sie im Alter mehr und mehr von der Tonspur her montiert. Denn das Auge gehe nach aussen, das Ohr aber nach innen, notierte er einmal.
Kinematografischer Selbstzweck sind diese Montagen nicht. Das Zerlegen einer Totalansicht in ihre Elemente, das Fragmentieren der Wirklichkeit, das Zusammenhänge immer auch verweigert – es knüpft ästhetisch die Bande zwischen der Optik von Bressons Figuren auf die Welt und der Optik von uns Zuschauenden, die die Undurchdringlichkeit und böse Zufälligkeit der Welt erkennen sollen. In Bressons Werk sind wir Mitgefangene, aber mit welcher Meisterschaft befreit zur Wahrnehmung des Wesentlichen!
In ihrem berühmten Essay «Against Interpretation» hat Susan Sontag das Thema des 1901 in der Auvergne geborenen Robert Bresson auf den Begriff gebracht: Gefangenschaft und Freiheit. Tatsächlich ist das Gefängnis in manchen seiner Filme konkreter Schauplatz – und natürlich auch Metapher für die menschliche Existenz, worin Freiheit sich zu realisieren hätte. Jedenfalls rührt die Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft an Sein oder Nichtsein. Immer ist in diesem Werk seit Mouchette (1967) die Möglichkeit des Freitods gegenwärtig.
Mit ihm signalisiert Bresson eine Weltsicht, in der die Möglichkeit der Gnade und seit Au hasard Balthazar (1966) zunehmend eines Sinns nicht mehr gegeben war. Das Scheppern der Rüstungen eines auf dem Schutthaufen der Geschichte verblutenden Rittertums in Lancelot du Lac, die tödliche Mechanik des einmal in Umlauf gebrachten Falschgelds in L'argent sind Manifestationen eines Pessimismus, der seine radikalste Form gefunden hat. Erlösungsmetaphern wie das fast ironisch überirdische Licht hinter der Gestalt des Kommissars am Ende von Pickpocket, der in den Himmel stechende Pfahl des Scheiterhaufens in Procès de Jeanne d'Arc (1962) oder das Kreuz in Journal d'un curé de campagne (1951, nach dem Roman von Georges Bernanos) wären im Spätwerk kaum mehr denkbar.
Die jansenistische Schule von Port-Royal, in deren Tradition Bresson steht, hat die Verborgenheit Gottes und die höchste Ungewissheit der Gnade – ein Schlüsselbegriff in seinem Werk – zum Kern. Seine späteren jungen Helden sind dieser Ungewissheit noch mehr ausgeliefert, auf noch ungesicherterem Gelände. Potenziell scheint zwar für Yvon, den Mehrfachmörder in L'argent, die Gnade der inneren Freiheit nicht gänzlich verbaut, wenn er sich nach der grausigen Tat der Polizei stellen wird. Dennoch bleibt Bressons epochale Analyse der Kälte von Geld grimmig und kalt. Für ihn war die Wirklichkeit heillos geworden und der Mensch nicht zu ändern.
Martin Walder

Martin Walder war Redaktor u. a. für Film bei der NZZ, Radio DRS 2 sowie der NZZ am Sonntag und ist heute freiberuflicher Kulturjournalist in Zürich.