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Reeditionen: «Rashomon» und «Leben»: Wahrheit ist eine Lüge

Mit Rashomon und Leben von Akira Kurosawa (1910–1998) kommen zwei der berühmtesten japanischen Filme wieder auf die Leinwand, zwei legendäre Werke, die – etwa mit Kenji Mizoguchis Erzählungen unter dem Regenmond – Anfang der 1950er Jahre an europäischen Festivals Preise holten und so dazu beitrugen, das japanische Filmschaffen im Westen bekannt zu machen. Zwei «Klassiker» also? Zumindest nicht im Sinne eines «klassisch»-konventionellen gradlinigen Storytellings durch einen allwissenden Erzähler und eines simplen Identifikationsangebots – so wenig wie dies etwa auf Orson Welles' Citizen Kane zutrifft. Umso mehr in jenem Sinne, in dem auch Welles' genialer Erstling – den Kurosawa damals noch nicht kannte – zu den Klassikern zählt: als Werke, in denen bis heute aktuelle Stoffe eine adäquate, prägnante und daher unvergessliche filmische Gestaltung erfahren haben.

Traue keiner Erzählung
Dabei erscheinen Rashomon und Leben auf den ersten Blick als sehr unterschiedliche Filme: Während letzterer, nach der in Japan üblichen Grundunterteilung, ein Gegenwartsfilm («gendai-geki») ist, kommt Rashomon als historischer Film («jidai-geki») daher. Obwohl eine der Hauptfiguren ein Samurai ist, der auch mal zum Schwert greift, handelt es sich jedoch über weite Strecken kaum um einen Actionfilm. Drei Männer haben unter der Ruine des (titelgebenden) Rasho-Tors, des Südtors des alten Kyoto, vor dem strömenden Regen Zuflucht gesucht. Zwei von ihnen, ein Holzfäller und ein Mönch, erzählen dem dritten von einer schrecklichen Bluttat und von der gerichtlichen Untersuchung des Falls, bei der sie als Zeugen anwesend waren: Ein Samurai, unterwegs mit seiner Frau, wurde in einem Wald von einem Banditen gefangen genommen, die Frau vergewaltigt, der Ehemann schliesslich tot aufgefunden.
Nicht dieser Vorfall, sondern die Erzählungen der Zeugen und Beteiligten interessieren Kurosawa. Anfänglich nimmt man als Zuschauer die Konstruktion in doppelter Rückblende – vom Rasho-Tor zur Gerichtsverhandlung, von dieser zum Tatverlauf – fast nicht wahr. Die mündlichen Berichte beider Erzählebenen gehen, kaum begonnen, sogleich in Bilder über, sodass wir dem Geschehen selbst zuzuschauen wähnen und den subjektiven Charakter der Schilderungen vorübergehend vergessen. So lange, bis sich zwischen den verschiedenen Versionen Abweichungen und Widersprüche auftun, erst nur in Details, dann im Kernpunkt: Wie kam der Samurai zu Tode?
Aber auch ein Kriminalfilm im Sinne des «Whodunit» ist Rashomon nicht. Bei allem Scharfsinn wird es uns nicht gelingen, anhand der Widersprüche einen Lügner und somit Verdächtigen zu identifizieren, und Kurosawa lässt die kriminalistische Lösung des Falls auch offen. Ihn interessiert nicht «die» Wahrheit, sondern dass jede der Figuren ihre (subjektive) Wahrheit erzählt, mit der verschämtes Weglassen und diskretes Beschönigen untrennbar verbunden sind. «Weil die Menschen schwach sind, lügen sie», meint der Mönch einmal, doch ist er nur bedingt das Sprachrohr des Autors, denn Kurosawa macht deutlich, dass die Wahrnehmungen der Zeugen von ihrem Selbst- und Weltbild geprägt sind, dass sie – möglicherweise nur teilweise bewusst – zurechtrücken, was dazu nicht passt.
Kurosawa unterläuft zugleich mit dem naiven Glauben an die Objektivität der Zeugenaussagen auch jenen an den Wahrheitsgehalt der Bilder. Die erzählenden Rückblenden kommen vordergründig nicht als subjektive Bilder daher, die sprechende Person wird im Rückblendenbild selbst gezeigt, allenfalls blickt ihr die Kamera einmal über die Schulter. Die Realitätsillusion, der wir als Zuschauende so gerne erliegen, wird hier zur Falle, und Kurosawas subtiles Lehrstück, dass wir Erzähltes nie unhinterfragt glauben sollen, bezieht sich nicht zuletzt auf sein eigenes Medium, den Film.

Ein Fünkchen Leben
Die ebenso elementare wie oft vergessene Tatsache, dass es erst die gestalterische Form ist, die dem Film seine Bedeutung verleiht, mag uns angesichts von Rashomon besonders bewusst werden, doch prägt sie Leben nicht minder. Es liegt nahe, den Film als die Geschichte des im Leerlauf seiner städtischen Amtsroutine erstarrten Beamten Watanabe zu resümieren, dem erst das Wissen um seinen bevorstehenden Krebstod die Augen für die Nichtigkeit seines Lebens öffnet und der sich zu einer letzten «guten» Tat aufbäumt. Doch in der Reduktion auf ein solches allzu erbauliches Traktat geht alles verloren, was Kurosawas Kunst ausmacht.
Wieder ist es die narrative Struktur, sind es die Rückblenden, die die Eindeutigkeit brechen und die Zuschauenden einbeziehen. Im ersten Teil des Films sind das noch eher konventionell anmutende, sehr sparsam eingesetzte Erinnerungsbilder, die als Rückblick auf sein sich zu Ende neigendes Leben in Watanabe aufsteigen. Zugleich aber lassen sie uns ahnen, dass diese «Mumie» (wie ihn eine jüngere Bürokollegin nennt) nicht immer so vertrocknet war. Und sie bilden einen Kontrast zur aufgekratzt-forcierten Lebhaftigkeit des nächtlichen Amüsierbetriebs, in den Watanabe als erste Reaktion auf das Todesurteil eintaucht, um nach «Leben» zu suchen.
Die Gradlinigkeit der Erzählung bricht gerade in jenem Moment ab, als Watanabe realisiert, dass es nie zu spät ist, aktiv zu werden und noch etwas zu tun. Von hier schneidet Kurosawa direkt zur Totenwache für den fünf Monate danach Verstorbenen. Vorgesetzte und Kollegen haben sich bei Watanabes Angehörigen zur traditionellen Trauerfeier eingefunden, wo sie sich erinnern und unter reichlichem Alkoholeinfluss für kurze Zeit teilweise die Masken fallen lassen. Watanabes finale «Tat», sein Engagement für die Sanierung eines sumpfigen Vorstadtwinkels und die Einrichtung eines Kinderspielplatzes, sein beharrliches Ankämpfen gegen die Trägheit der bürokratischen Windmühlen, gegen die Interessengebundenheit der Politiker und selbst gegen das organisierte Verbrechen, das alles erfahren wir nur aus den – je nach Blickwinkel gefärbten – Erzählungen der Anwesenden.
So vermeidet Kurosawa jede klare Wertung von Watanabes Wirken in diesen Monaten. Gross erscheint uns sein Tun im Verhältnis zur Trägheit, der Kleinlichkeit und der Selbstsucht jener, die sich ihm widersetzen. Klein, wenn wir am Ende erleben, wie sich die Beamtenroutine in fast identischer Wiederholung einer Szene des Anfangs perpetuiert. Der einzige Bürokollege, der einen kurzen Reflex des Aufbäumens zeigt, versinkt sogleich wieder resigniert hinter den Papierbergen – so wie Watanabe seine anfänglichen Verbesserungsvorschläge in einer Schublade vermodern liess. Nur dass dieser Kollege nach Büroschluss hinausgeht und einen Blick auf den neuen Kinderspielplatz wirft. Noch ist das Fünkchen des Vorbilds offenbar nicht ganz erloschen …
Wie in Rashomon erlaubt uns die polyphone Erzählung einen differenzierten Blick auf das Handeln und die Motive der Hauptpersonen und weitet unsere Wahrnehmung über das Individuelle hinaus.
Martin Girod