Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Comédies françaises 1931–1968: Schweigen ist Silber

19 französische Klassiker und Empfehlungen zur Wiederentdeckung von der frühen Tonfilmzeit bis zur Nouvelle Vague: Nach unseren Streifzügen durch die Commedia all’italiana (2010) und die amerikanische Screwball Comedy (2011) folgen wir einer weiteren grossen Traditionslinie des komödiantischen Kinos. Sie brilliert, wen wunderts, mit Eleganz und Esprit und mit ErzkomödiantInnen von Arletty, Fernandel und Danielle Darrieux bis zu Philippe Noiret, Catherine Deneuve und Jean-Pierre Léaud. Seine Filme, schrieb René Clair einmal, seien so vollkommen nutzlos wie eine Nachtigall oder eine Blume. Ein Regisseur, der so etwas behauptet, muss entweder über ein starkes Selbstbewusstsein verfügen oder sehr kokett sein. Die zweite Möglichkeit ist in Clairs Fall vielleicht nicht ganz auszuschliessen. Aber die erste ist die wahrscheinlichere. Clair wusste, wie unverzichtbar das Divertissement ist.
Mit seinem Werk trat er den Beweis dafür an, welche Noblesse Unterhaltung besitzen kann. Das Kino war für ihn ein Medium des Raffinements, der Fantasie, Ironie und Eleganz. Dabei ist Clairs Name kein exklusives Synonym für den Glanz der französischen Filmkomödie. Seine Filme, etwa Le silence est d'or oder Les belles de nuit, bestätigen vielmehr eine Regel, die man generell für diese Spielart des Genres aufstellen kann: In Frankreich ist die Leichtfertigkeit immer eine Spur geistreicher und hintergründiger als anderswo. Zugleich ist Clairs Karriere ein trefflicher Massstab für die Wandlungen, die das Genre durchlief.

Das Kino als Schatztruhe
Das Ende der Stummfilmära bedeutet für die grossen französischen Komödienregisseure keinen Abschied, sondern einen Zugewinn. Julien Duvivier nimmt in Allô Berlin? Ici Paris! die Herausforderung des Tonfilms mit offensiver Fantasie an. Und Clair, dem 1927 das Kunststück gelungen war, Eugene Labiches dialogreiche Farce Un chapeau de paille d’Italie mit einem Minimum von Zwischentiteln zu adaptieren, arrangiert ab 1929 das Zusammenspiel von Ton, Dialog und Musik weit leichtfüssiger, als es zu diesem Zeitpunkt in Hollywood noch die Regel ist. Gleichwohl bleibt die Stummfilmästhetik für ihn eine Schatztruhe, deren Kostbarkeiten es noch immer Wert sind, gehoben zu werden.
Jacques Tati und Pierre Étaix treten zwei Jahrzehnte später dieses Erbe auf je eigene Weise an, entschlüsseln die Zeichenhaftigkeit des modernen Alltags pantomimisch. Voyage surprise von Pierre und Jacques Prévert sowie Zazie dans le métro von Louis Malle sind nostalgische Reverenzen an die Stummfilmgroteske; Malle greift auf den ältesten Trick der Filmgeschichte, den Stopptrick, zurück und verleiht der Ästhetik einer vergangenen Epoche mit vertrackten Schnittfolgen und verblüffenden Szenenwechseln ein entschieden modernes Antlitz. Auffallend oft reflektieren die Regisseure das eigene Medium. Das Filmemachen ist ein zentrales Handlungselement in Marcel Pagnols Le schpountz und Clairs Le silence est d'or. Im ersten Teil von Yoyo, der in den 1920er Jahren spielt, verwendet Pierre Étaix noch Zwischentitel; erst nach der Erfindung des Tonfilms steht seinen Figuren auch die Sprache zu Gebot. In Occupe-toi d’Amélie changiert die Szenerie zwischen «Realität» und Bühnenschauspiel, wobei sich die erste Ebene ebenso erkennbar in Kulissen zuträgt wie die zweite; ein listiger Augentrug, den die Kamera regelmässig mit staunenswerter Akrobatik herstellt. Der Zuschauer wird sich hier seiner selbst bewusst: In der Pause zwischen den Akten des Stücks ist das Theaterpublikum zu sehen. Und selbst der aufmerksamste Betrachter kann auf Anhieb nie genau sagen, mit wem er es zu tun hat: mit dem Schauspieler oder seiner Rolle.
Die Nähe zur Bühne scheut die französische Komödie der ersten Tonfilmjahrzehnte ohnehin nicht. Das Kino muss sich nicht mehr abgrenzen von den anderen Künsten, es ist sich seiner stolzen Eigenständigkeit längst gewiss. Für Sacha Guitry (Le roman d'un tricheur) gibt es sowieso nichts Filmischeres als das gesprochene Wort – obwohl schon die Vorspanne seiner Filme oft mehr Einfallsreichtum aufweisen, als die meisten Regisseure für einen ganzen Film aufbringen. Dem Kino nähert sich dieser nonchalante Botschafter französischer Lebensart und des eigenen, unbändigen Talents als Amateur, in der französischen Begrifflichkeit dieses Wortes: als Liebhaber. Das süffisante Spiel mit Wortwitz und ebenbürtiger Replik findet seine visuelle Entsprechung in ungekannten Perspektiven und ausgefallenen Kompositionen. Die Generation der Nouvelle Vague, vor allem François Truffaut, entdeckte Guitry als einen der grossen Modernen des Kinos; für Alain Resnais ist er noch heute ein wichtiges Vorbild.
Der Tonfilm gibt Autoren wie Jacques Prévert die Möglichkeit, den Schauspielern einen grossartigen Spielraum zu verschaffen – man denke nur an das famose «bizarre, bizarre» aus Drôle de drame. Die Regisseure können dabei aus einem beneidenswerten Reservoir schöpfen, das sich vor allem aus dem Theater und der Music Hall speist. Danielle Darrieux ist der einzige Star, der keine dieser Schulen durchlief, sondern von Anfang an ganz dem Kino gehörte. Als fingerfertige Elevin einer Schule für Taschendiebe demonstriert sie in Battement de cœur jene agile, frivole Lebensfreude, die ihr den Kosenamen «die Verlobte von Paris» einbrachte. Ohne ihren boulevardesken Elan hätte das kühne Erzählexperiment von Occupe-toi d'Amélie gewiss nicht funktioniert. Die Komödien können sich furchtlos ins Schlepptau ihrer Darsteller begeben und darauf vertrauen, dass ihr Zusammenspiel vergnügliche Funken schlägt wie etwa beim einzigartigen historischen Gipfeltreffen von Arletty, Fernandel und Michel Simon in Fric-Frac.

Ungebrochener Elan
Ende der 1950er Jahre findet ein Generationenwechsel statt. Die Nouvelle Vague trägt, neben vielen anderen Verdiensten, auch einem ungestillten Bedürfnis des jungen Publikums Rechnung, das im französischen Kino bis dahin nur wenige gleichaltrige Identifikationsfiguren fand. Auf dem Terrain der Komödie bedeutet diese Bewegung indes keinen unwiderruflichen Bruch, sondern eine notwendige und willkommene Erneuerung. Jean-Pierre Cassel etwa fügt dem Boulevardesken in Les jeux de l'amour eine tänzerische und zugleich melancholische Note hinzu, während Catherine Deneuve in La vie de château zum ersten Mal unter Beweis stellen darf, dass sie zu den weltweit schnellsten Dialoginterpretinnen gehört.
Der Stil der Darsteller ist aufgehoben in einer neuen erzählerischen Freizügigkeit. Das Kino verabschiedet sich aus der stickigen Studioatmosphäre, die mitunter schwer auf den Filmen der «Ancienne Vague» lastete, und nimmt übermütig Besitz von Realschauplätzen. Stärker noch als in Les jeux de l'amour wird Paris in Zazie dans le métro zu einem der Hauptdarsteller. Die Stadt ist hier ein surrealer, mit anarchischem Furor erkundeter Kino-Ort. Malles Film ist eine verblüffende filmische Antwort auf die Stilexperimente von Raymond Queneaus Romanvorlage, in der die Sprache (zumal aus dem Mund der naseweisen Titelheldin) zu einem ebenso rätselhaften Labyrinth wird wie die Topographie von Paris. Am Ende ihrer heiteren, hysterischen Eskapade antwortet die Provinzgöre auf die Frage ihrer Mutter, was sie denn dort erlebt habe: «Ich bin gealtert.»
Die grossen Komödienregisseure dieser Zeit – Philippe de Broca, Michel Deville und bald auch Jean-Paul Rappeneau – gehören eher zum Umfeld als zum festen Kern der Neuen Welle; deren Protagonisten wenden sich, wenn überhaupt, erst spät der Komödie in ihrer Reinform zu. Aber die drei Komödienspezialisten befinden sich im Einklang mit den Umbrüchen, die sich im französischen Kino vollziehen. Ihre Handschrift und ihr Talent zeigen sich schon in ihren ersten Filmen: die elegante Koketterie und kluge Sinnlichkeit bei Deville; die Abenteuerlust und die Sehnsucht nach dem Anderswo und Anderssein bei de Broca; die rastlose Hoffnung auf die Vereinbarkeit der gegensätzlichen Charaktere bei Rappeneau. Ihrem Gesamtwerk kommt eine auch wehmütige historische Bedeutung zu. Von den 1960er Jahren an, als die französische Komödie anfing, für die meisten Zuschauer ein Synonym zu werden für Vehikel von Komikern wie Louis de Funès oder Pierre Richard, boten sie dem Zeitgeschmack die Stirn: Ihre Filme erinnerten daran, dass es in diesem Genre auch geistreiche Autoren und Regisseure braucht.
Gerhard Midding