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Kenji Mizoguchi: Einführung in die filmische Hypnose

Kenji Mizoguchi (1898–1956) ist unter den grossen japanischen Filmautoren der 1920er bis 1950er Jahre der unbekannteste und wird deshalb gern mit einfachen Formeln wie «Frauenregisseur» oder «Meister der Plansequenz» charakterisiert. Nach der Reedition seines berühmtesten Films, Erzählungen unter dem Regenmond, vor vier Jahren bieten unsere Retrospektive und Fred van der Kooijs Vorlesungsreihe nun die rare Gelegenheit, Mizoguchis Kunst näher kennenzulernen. Bisweilen bewegt sich die Filmgeschichte in seltsam asynchronen Zeitläufen. Obwohl Kenji Mizoguchi und Sergej Eisenstein im gleichen Jahr (1898) geboren wurden, gilt der sowjetische Regisseur als Grossmeister der Stummfilmzeit, während Mizoguchis Hauptwerke in den fünfziger Jahren entstanden, als Eisenstein bereits gestorben war.
Von den 63 Filmen, die Mizoguchi vor dem Zweiten Weltkrieg inszeniert hat, sind nicht weniger als 52 verloren gegangen. Bei einem Gesamtwerk von 88 Filmen bedeutet das einen Verlust von fast 60 Prozent! Zudem sind jene Kopien, die es von den wenigen erhaltenen Filmen der zwanziger und dreissiger Jahre heute noch gibt, oft in einem erbärmlichen Zustand. Und ausserhalb von Japan war damals kaum einer dieser Filme bekannt. Das änderte sich schlagartig, als im Jahr 1953 der Film Erzählungen unter dem Regenmond (Ugetsu monogatari) am Filmfestival von Venedig den Silbernen Löwen gewann.
Es ging auch nicht mehr lange, da meinten westliche Beobachter die Besonderheiten des spät entdeckten Meisters erkannt zu haben. Inhaltlich wurde ein nahezu feministisches Engagement gegen die Unterdrückung der Frau festgestellt, und formal begeisterte sein Einsatz der Plansequenz, in der eine ganze Szene nur mit einer einzigen (oft komplex bewegten) Kameraeinstellung eingefangen wird.
Man übersah allerdings, dass die Männer nicht in allen Filmen als selbstherrliche Paschas auftreten und überraschend wenige Werke von Plansequenzen dominiert werden. Jener Film, in dem dieses Aufnahmeprinzip am reinsten und wohl auch am virtuosesten Anwendung findet, ist ausgerechnet 47 Ronin (Genroku Chushingura) (1941/42), der lange als «politisch verdächtig» von der Kritik geflissentlich übergangen wurde. Aber in diesem Film wiederum treten kaum Frauen auf! Auch die Mär, dass Mizoguchi tollkühn auf Grossaufnahmen verzichtet haben soll, wird nicht zuletzt vom Spätwerk Lügen gestraft. In zwei seiner grössten Filme, Sansho, der Landvogt (Sansho dayu) (1954) und Das Leben der Oharu (Saikaku ichidai onna) (1952), sind sie ein fester Bestandteil des Bildrepertoires.

Melodramen – gegen den Strich gebürstet
Von den japanischen Leinwand-Klassikern wird gerne behauptet, der Zuschauer brauche zu deren Verständnis so etwas wie ein Entzifferungsgerät. (Kurosawa wird wohl deshalb immer wieder als «zu westlich» kritisiert, weil seine Filme hier auf Anhieb verstanden wurden.) Ich meine, Mizoguchi ist um kein Haar sperriger als Antonioni oder Welles. Gerade die ausgefuchste Art und Weise, wie er mit den mittlerweile kulturübergreifenden Konventionen des Melodrams umgeht, erleichtert einem westlichen Publikum den Zugang spürbar. Erstaunlicherweise sind es ausgerechnet jene Klischees (die ihm zu Lebzeiten in Japan ein breites Publikum garantierten), welche Mizoguchi eine höchst innovative Verknüpfung der filmischen Ereignisse erlauben. Denn eines lässt sich kaum übersehen: Mit jenem sentimentalen Genre wird hier ein überaus komplexes Verwirrspiel getrieben. Die daraus resultierte Rätselhaftigkeit kann aber wohl nur jener als «typisch japanisch» ansehen, der vergisst, dass wir Ähnliches bei einem westlichen Zeitgenossen wie Josef von Sternberg (1894–1969) beobachten können. Wie auch später bei Rainer Werner Fassbinder zeigt sich bei Mizoguchi, dass die brutale Kolportagemaschinerie des Melodrams sich offenbar vorzüglich dazu eignet, besonders kräftig gegen den Strich gebürstet zu werden. Auch das widerspricht dem Klischee dieses angeblich «japanischsten aller Regisseure», war doch kaum ein anderer im Lande derart gut informiert über die jeweils letzten technischen und stilistischen Erneuerungen in der internationalen Filmszene.

Typisch japanisch? Typisch Mizoguchi!
Was aber zeichnet einen Mizoguchi-Film nun wirklich aus? Da wird Hochdramatisches derart in der Bildtiefe platziert, als würden die von ihren Gefühlen Zerrütteten sich vor der Kamera schämen. Die Emotionen erscheinen dadurch wie gereinigt und berühren überraschend intensiv. Auch entscheidende Ereignisse werden mit Vorliebe in jene Entfernung verlegt – statt der aktuellen 3D-Brille bräuchte man gelegentlich ein Fernrohr für dieses Kino! Dazu liebt es dieser Regisseur, Ursache und Wirkung glattweg zu vertauschen oder den Grund einer Reaktion gleich ganz zu unterschlagen. Wer an psychologische Begründungen gewöhnt ist, wird mit harten Brüchen in der Personenzeichnung konfrontiert. Und manchmal scheint einfach gar nichts zu passieren oder die Kamera schwenkt kurzerhand vom Geschehen weg, um staunend den Rest des Raumes zu erforschen.
All das verleiht auch noch dem alltäglichsten Drama eine Aura des Geheimnisvollen. Und so zeigt sich einmal mehr: Nur primitive Sehgewohnheiten führen zu jener banalen Sucht nach sofortiger Verständlichkeit. Wunder dagegen müssen rätselhaft sein; ohne das würden sie ihre Magie auf der Stelle verlieren.
Wen erstaunt es da noch, dass dem Betrachten eines Mizoguchi-Films immer wieder etwas Hypnotisches anhaftet. Gebannt sitzen wir vor der Leinwand und fragen uns entzückt: «Wie bitte?»
Und zugleich ahnen wir: Umso leichter und berauschender ein Mizoguchi-Film wirkt, desto anstrengender und rücksichtsloser muss wohl der Arbeitsprozess gewesen sein, mit dem dies gelang. Zurecht, denn gleich ob literarischer Klassiker oder Groschenroman, das Sujet der jeweiligen Vorlage wurde in endlosen Drehbuchkonferenzen so lange überarbeitet, bis das, was schliesslich auf dem Zelluloid erscheint, sich wie ein Palimpsest über den ursprünglichen Text gelegt hat. So kann aus einem Schundroman etwas ganz Kostbares werden, oder es entsteht – wie im Falle von Erzählungen unter dem Regenmond – durch die tollkühne Vermischung von zwei japanischen Novellen mit deren zwei aus der Feder von Guy de Maupassant eine makellose Fabel.
Mochte er auch politisch seine Jacke nach dem Wind gehängt haben und dabei von «links» über «nationalistisch» nach «liberal» geschwenkt sein, auf dem Set war Mizoguchi immer nur eines: ein Despot. Allein schon seine Proben ähnelten Erschöpfungsschlachten, wo er seine Schauspieler nach Herzenslust verwünschte. Darin gleicht er frappant dem von ihm so bewunderten Josef von Sternberg; ein Regiemonster auch er, der dem fernöstlichen Bruder im Jahr 1936 auf dem Set zu Die Schwester von Gion (Gion no shimai) passenderweise einen Besuch abstattete. Doch im Gegensatz zu Sternberg, dessen Karriere Hollywood bereits ein Jahr zuvor ohne viel Federlesen beendet hatte, konnte sich Mizoguchi ein hohes Mass an Unabhängigkeit erstreiten. Ach, wäre doch auch Sternberg Japaner gewesen!
Fred van der Kooij