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Richard Lester & Swinging London: Vorgeschmack der grossen Freiheit

Mit Popmusik und Partys, Pilzköpfen und Minijupes eroberte die Jugend Mitte der sechziger Jahre die britische Metropole und machte sie zur aufregendsten Stadt der Welt. Was als Swinging London Geschichte schrieb, schlug sich auch in einer Reihe grossartiger Zeitgeistfilme nieder, allen voran in jenen des Wahlbriten Richard Lester. Sie spiegelten das unbekümmerte neue Lebensgefühl komödiantisch wie in A Hard Day’s Night, The Knack … und Georgy Girl, zeigten aber – etwa in Darling und Alfie – auch seine Kehrseiten. Smashing Time und The Pleasure Girls, What's Up, Pussycat und Tonite Let's All Make Love in London: Schon die Titel vieler Filme aus dem Swinging London von 1965–1968 verabschieden programmatisch das graue, steife England der Nachkriegszeit. Bisweilen blitzt in ihnen auch schon der urbritische Sinn fürs Absurde auf, der bei diesem Wertewandel eine zentrale Rolle spielt: Here We Go Round the Mulberry Bush, I'll Never Forget What's'isname
Spätestens 1965 hatte auch die internationale Presse bemerkt, dass sich in London eine neue Szene von Musikern, Künstlern, Mode- und Grafikdesignern etabliert hatte, die laufend Youngsters anzog. Das Modemagazin Vogue ernannte London zur «most swinging city in the world», und im April 1966 zog das amerikanische Time Magazine mit jener Titelgeschichte über Swinging London nach, die den Begriff prägte. Was sich seit 1959 in Romanen wie «Absolute Beginners», Bands wie The Beatles, The Kinks oder The Rolling Stones, in Piratensendern wie «Wonderful Radio London» und in Designwürfen wie dem Look von Mary Quant und dem Mini Cooper manifestiert hatte, trug nun ein gemeinsames Label. «Swinging» bedeutete «modisch», «in» und stand für eine optimistische und hedonistische Lebenshaltung – mochte sie nüchtern betrachtet auch nur der Ausdruck des Wirtschaftsaufschwungs nach der Abkehr von der Austeritätspolitik der Nachkriegszeit sein.
Für konservative Geister war Swinging London der Inbegriff einer oberflächlichen und egoistischen Kultur, prompt wurden auch die Filme zum Phänomen in diese Ecke gestellt. Die britische Filmkritik hatte seit 1960 die «angry young men» und den «kitchen-sink-realism» des Free Cinema entdeckt, das mit der Arbeiterklasse und eher mit nordenglischen Industriestädten wie Manchester assoziiert war. Viele der Londoner «Szenefilme» erschienen ihnen als Verrat am sozialkritischen Kino. Der Publizist David Robinson etwa, damals Filmkritiker der Financial Times, beklagte 1968 in Sight & Sound ihre «visuelle Überspanntheit», und noch 1983 bemängelte sein Kollege Jeffrey Richards die «eskapistischen Fantastereien, die kurzlebigen Moden und die exaltierte Ausstattung» der Swinging-London-Filme.
Mit unserer Reihe zu Swinging London streben wir keine Totalrevision dieser Sichtweise an – etliche der oben genannten Titel kommen im Programm gar nicht vor, weil die Vorwürfe zutreffen. Aus der Distanz von bald fünfzig Jahren zeigt sich jedoch, dass die Trennlinie zwischen Free Cinema und Swinging London bzw. zwischen «wertvollem» und «eskapistischem» Kino weit weniger scharf war, als es das Klischee will. Richard Lesters köstliche Promiskuitätsfarce The Knack … and How to Get It beispielsweise wurde von der Firma des Free-Cinema-Heroen Tony Richardson produziert und hat mit Rita Tushingham die gleiche Hauptdarstellerin wie dessen A Taste of Honey. Auch wird der Frauenheld mit dem «gewissen Kniff» weit weniger gefeiert als auf die Schippe genommen.
Generell pendeln die Swinging-London-Filme zwischen ausgelassener Feier der neuen Freiheiten (besonders bei Partnerwahl und Partnerwechsel) und der Abstrafung allzu freizügiger Figuren. Omnipräsent sind in ihnen junge Frauen aus der Provinz, die in einer «Mädchen-WG» ihre Selbstbestimmung erproben und Solidarität erfahren, sich gleichzeitig aber mit Dauerbedrängung durch Männer und unerwünschten Schwangerschaften konfrontiert sehen. Ein frauenverachtender Frauenheld wie der Prolo-Casanova Alfie im gleichnamigen Film wird sogar gleich mit Tuberkulose geschlagen. Die grosse Freiheit der individuellen Lebensführung, die mit '68 einsetzte, ist also erst im Vorstadium spürbar.
Ein Wort noch zu Richard Lester (*1932): Auch er, der früh emigrierte Fernsehmann und bildertrunkene Satiriker aus Philadelphia, wurde als Künstler kaum je ganz ernst genommen und bisweilen nur als notorischer Blödler abgetan (man lese etwa den Totalverriss seines Gesamtwerks in David Thomsons «Biographical Dictionary of Film»). Und: Auch ihn wollen wir hier nicht general-, aber mindestens teilrehabilitieren, indem wir uns auf seine witzigsten und radikalsten Schaffensphasen der sechziger und siebziger Jahre konzentrieren. Filme wie The Knack …, Petulia und The Bed Sitting Room sind Musts für alle, denen das Unheilige heilig ist.
Andreas Furler