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Marilyn Monroe: Strahlend widersprüchlich

Auch fünfzig Jahre nach ihrem Tod ist Marilyn Monroe lebendiger denn je. Tragischer Mythos, geniale Komödiantin, dummes Blondchen, Hollywood-Ikone und weltliche Heilige – kein Etikett mag ihr widersprüchliches Wesen wirklich zu fassen. Bleibt also nur, ihre Filme nochmals anzusehen und sich ein neues Bild zu machen! Unter den Sternen am Firmament, so sagen die Astronomen, glitzern auch solche, die eigentlich schon gar nicht mehr sind, weil deren Lichtstrahl immer noch durch den Kosmos zu uns unterwegs ist. Dasselbe gilt auch für jene Stars, die uns vom Firmament der Kinoleinwand herunter anstrahlen. Auch ihnen kann der Tod ihre Leuchtkraft nicht rauben. Selten hat indes ein Stern faszinierender gefunkelt als Marilyn Monroe, die uns auch fünfzig Jahre nach ihrem Tod noch immer blendet mit ihrer milchig weissen Haut und den blondierten Haaren, mit ihrem Mund, ihren Augen, Schultern, Brüsten, Hüften, Beinen. Marilyns Charme war freilich immer mehr als die Summe solcher Einzelteile, genau so, wie sie selbst sich nie auf nur einen Nenner bringen liess. So sehr man auch versucht hat, ihr ein eindeutiges Image zu verpassen – das des «dummen Blondchens», der «Sexbombe» –, die Monroe blieb immer widersprüchlicher, als die Hollywood-Werbeabteilung es sich wünschte. Zu Recht heisst es in ihrem letzten Film, The Misfits, über ihre Figur: «You can't figure her out!» Zu dieser Unberechenbarkeit passt freilich auch Marilyns notorische Unzuverlässigkeit als Schauspielerin, für welche sie verschrieen war. Die Unberechenbarkeit vor und jene hinter der Kamera gehörten wohl zusammen. Misfits-Regisseur John Huston selbst hatte schon ein Jahrzehnt zuvor diesen unberechenbaren Charme entdeckt: In seinem Film The Asphalt Jungle von 1950 hat Marilyn Monroe einen ihrer ersten Auftritte als blutjunge Geliebte eines distinguierten Anwalts, der einen grossen Raubzug plant. So stereotyp diese Rolle eigentlich sein müsste, Marilyn macht aus ihr ein Mysterium und ihre wenigen kurzen Auftritte zu Höhepunkten. Wenn sie ihren Sugar-Daddy zutraulich Onkel nennt und dann auf den Mund küsst, ist nicht nur der Anwalt ihr verfallen. Auch das Publikum im Kinosaal hat sich in dem Augenblick unrettbar an sie und ihre widersprüchliche Mischung aus Verführung und Unschuld verloren, für immer. Selbst wenn sie später als Femme fatale in Henry Hathaways Niagara von 1953 den Mord an ihrem Gatten plant, ist man ganz auf ihrer Seite.

Die Liebe der Öffentlichkeit
Niagara verhalf ihr denn auch endgültig zum Durchbruch. Aus dem brünetten Mädchen, das mit dem Namen Norma Jean Mortenson (bei der Taufe als Baker registriert) als uneheliches Kind einer psychisch labilen Filmcutterin zur Welt kam und seine Kindheit und Jugend im Waisenhaus und bei verschiedenen Pflegefamilien verbrachte, war nun endgültig ein Star geworden, ein Kunstwesen mit blondierten Haaren und einem neuen Namen. Gewiss diente diese Wiedergeburt zur Kompensation für jenen Mangel an Wärme, den sie als Kind erfahren musste. Was ihr an uneingeschränkter Liebe von Einzelmenschen verwehrt geblieben war und auch weiterhin verwehrt bleiben sollte, bekam sie von den Zuschauermassen: «Ich wusste, ich gehörte dem Publikum, ich gehörte der Welt. Die Öffentlichkeit war meine Familie, sie war der einzige Märchenprinz, die einzige Heimat, von der ich geträumt hatte», soll sie einmal gesagt haben. So wie ihr grosses Vorbild Judy Garland hat auch Marilyn für diese Liebesaffäre mit dem Publikum alles gegeben und sich dabei komplett verausgabt bis zur psychischen und körperlichen Zerstörung. Die lustvolle Lebendigkeit, für die man ihre Leinwandfiguren bewunderte, war erkauft mit einem ruinösen Privatleben, geprägt von scheiternden Ehen, bodenlosen Selbstzweifeln und schwersten Depressionen, die sie in ihren letzten Lebensjahren mit immer grösseren Dosen von Medikamenten zu bekämpfen suchte – vergeblich. Und doch wäre es allzu simpel, in Marilyn einzig ein Opfer zu sehen, welches zerbrochen ist an den Ansprüchen seiner Fans, dem Egoismus seiner Männer und der Geringschätzung der Filmindustrie. Vielmehr hat Marilyn Monroe dem Widerspruch zwischen glamouröser Filmpersona und dem verquälten Menschen hinter der Maske immer wieder bewusst Ausdruck verliehen. «Sie hat uns einen spannungsreichen Schwebezustand zwischen Lebensbejahung und Todestrieb vorgelebt, verkörperte Gegensätze, die sich für unsereinen ausschliessen, für sie aber aufs Innigste verwandt waren», hat Elisabeth Bronfen über sie geschrieben.

Ein Star für seine Zeit
Es ist denn auch kein Zufall, dass Marilyn Monroe ausgerechnet in den fünfziger Jahren zum Superstar aufsteigen sollte, sehen sich doch die USA der Fünfziger von ganz ähnlichen Widersprüchen zerrissen: In den Werbeanzeigen strahlen weissbeschürzte Hausfrauen mit aseptischen Küchen um die Wette, während zeitgleich der Forscher Alfred Kinsey mit seinem zweiten Report zum sexuellen Verhalten der amerikanischen Frauen im ganzen Land für Aufsehen sorgt. Marilyn scheint genau diese widersprüchlichen Trends in sich zu verkörpern: die Sehnsucht nach kindlicher Unschuld ebenso wie die Ahnung einer bevorstehenden sexuellen Revolution. Und wer wirklich hinschaut, der sieht, dass sie auch ihre Rollen gleichsam mit doppeltem Boden spielt. In Billy Wilders The Seven Year Itch gibt sie die sexy Nachbarin eines frustrierten Strohwitwers und ist damit scheinbar eine reine Männerfantasie. Doch wenn sie am Ende den Ehemann zu Frau und Kind entlässt, zeigt schon ihr ironischer Blick, wie sehr sie ihr Gegenüber durchschaut und wie gewitzt sie mit dessen Begehren gespielt hat. Nicht sie ist billig, die Fantasien der Männer sind es. Und wenn sie in Howard Hawks' Gentlemen Prefer Blondes «Diamonds Are a Girl's Best Friend» singt, stellt sie nur unter Beweis, dass sie im Gegensatz zu den Typen um sie herum wirklich verstanden hat, wie Marktwirtschaft funktioniert. Selbst in Some Like It Hot ist sie am Ende nicht jenes hilflose Opfer, als das sie sich während des ganzen Films aufgeführt hat, sondern eine, die sich selbstbewusst dafür entscheidet, ganz ihrem Begehren zu folgen.
Einfach nur perfekt das Sexsymbol zu verkörpern, als das sie heute gerne missverstanden wird, hätte ihr nie solchen Ruhm eingebracht. Überragend war vielmehr die Art und Weise, wie sie Fantasien erfüllte und diese zugleich immer auch unterlief, wie sie in der offensiv ausgestellten Naivität hintergründigen Witz aufleuchten liess und in der überbordenden Lebensfreude abgründige Traurigkeit. Diese Ambivalenzen sind es, welche die Zuschauer von damals bis heute in Bann schlagen. Sie sei eine «Mischung aus Charlie Chaplin und James Dean», hat ihr Bewunderer François Truffaut einmal gemeint – ein so überraschender wie treffender Vergleich. Auch die besondere Stellung Marilyn Monroes in der amerikanischen Kulturgeschichte ist damit auf den Punkt gebracht. Chaplin hat das klassische Hollywoodkino mitbegründet, während Dean das Aufkommen einer modernen, introspektiven Filmkunst verkörperte. Marilyn indes hat sich auch in dieser Hinsicht auf der Grenze bewegt, zwischen Old und New Hollywood die letzte Diva der Traumfabrik und zugleich das Vorbild für die Superstars der Zukunft, von Andy Warhol bis Madonna.
Als man sie am 5. August 1962 tot in ihrem Schlafzimmer auffand, gerade mal 36 Jahre alt, ahnte die Welt, dass mit ihr eine ganze Kultur gestorben war. Sie aber lebt als mehrdeutiger Mythos weiter, eingebrannt in Film- und Fotomaterial und eingebrannt auch auf der Netzhaut all jener, die sie einmal gesehen haben.
«Just head for that big star straight on. It'll take us right home», sagt Clark Gable am Ende von The Misfits und meinte damit vielleicht auch den Star, der in dieser Szene neben ihm sass: die weit über ihren Tod hinaus strahlende Marilyn Monroe, auf ewig aufgehoben in der Heimat von Publikum und Leinwand.
Johannes Binotto

Johannes Binotto ist Kulturwissenschaftler und publiziert in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften über Film und dessen Geschichte. Zu seinen Spezialgebieten gehören Film und Psychoanalyse. Eine längere Fassung seines Monroe-Artikels erschien im April in der BaZ.