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Lars von Trier: Das Kino als Versuchslabor

Seit 25 Jahren gilt Lars von Trier als der ewige Provokateur und zuverlässigste Grand Guignol des europäischen Kinos. Ob all der Skandale um seine Person geht gern vergessen, dass der 1956 geborene Däne auch einer der experimentierfreudigsten und bildgewaltigsten Neuerer des Autorenkinos ist. Wir lassen sein Werk der selbst auferlegten Zwänge und lustvollen Regelbrüche Revue passieren: von den frühen Meisterstreichen Epidemic und Medea über die revolutionäre Fernsehserie Geister bis zu den neueren Melodramen um geschundene Frauen und goldene Herzen. Es sind gewagte und herausragende Filme wie Breaking the Waves (1996) und Dogville (2003), die Lars von Trier bei einem breiten Publikum bekannt gemacht haben. Auch sein Engagement für strikte Regeln und Selbstbeschränkung in der Bewegung, die als «Dogma 95» bekannt wurde, hat von Triers Image nachhaltig geprägt. Sein Gespür für öffentliche Auftritte und seine provokative Selbstinszenierung sind legendär. Doch sind die eigenwilligen Statements und Filmkonzepte des skandinavischen Enfant terrible nur nachvollziehbar, wenn man sich mit dem Frühwerk genauer auseinandersetzt.
Bereits der an der dänischen Filmhochschule gedrehte Abschlussfilm weist Themen und Gestaltungsprinzipien auf, die Lars von Trier sukzessive weiter entwickeln wird. Bilder der Befreiung (1982) ist ein langsamer und getragener Film, der mit starken Kontrasten arbeitet: kalte und warme Farben, Gefangenschaft und Freiheit, Natur und Zivilisation, Fiktion und Dokumentation. Diese Kontrapunkte sind mit den vier Naturelementen verbunden. Von Triers Lieblingselement ist das Wasser, das auch in der späteren Europa-Trilogie eine wichtige Rolle spielt. Bilder der Befreiung erzählt vom Krieg und von der Stellung Deutschlands, vom Nazi-Offizier Leo und dem damit verbundenen Komplex von Schuld und Sühne, Vergangenheitsbewältigung, Verantwortung und Verweigerung. Die politische Ebene verknüpft der Regisseur mit einer religiösen Motivik, die auch in seinen späteren Filmen häufig auftaucht: Nach selbst erfahrenem Leid findet Leo Erlösung im Glauben und steigt schliesslich ins Paradies auf. Dass ausgerechnet einem Nazi-Offizier die Rolle des Märtyrers zugeschrieben wird, ist Teil der von Trierschen Faszination für das visuelle Erscheinungsbild des Nationalsozialismus. Eine Faszination, die auch in dem technisch und ästhetisch überwältigenden Europa (1991) weiterwirkt, der die schuldhafte Verstrickung in die Machtmechanismen neu verhandelt.
Das schöpferische Potenzial dieses Ausnahmetalents manifestiert sich erstmals in aller Deutlichkeit in der Europa-Trilogie. Bereits The Element of Crime (1984) wurde am Filmfestival von Cannes gezeigt und erhielt den Grand Prix Technique sowie respektable Kritiken für seinen ungewöhnlichen ästhetischen Zugang, der ein metaphorisches Europa im Verfallszustand inszeniert. Es ist jedoch der zweite Film Epidemic (1987), der die dramaturgische und ästhetische Herangehensweise von Triers offenlegt.
Das Filmen ist für Lars von Trier mit dem Anspruch verbunden, während des Erzählens auch den Prozess dieser Narration zu reflektieren. Exemplarisch hierfür ist eine Sequenz aus Epidemic, welche die Drehbuchentwicklung bewusst sichtbar macht. Von Trier und sein Drehbuchautor Niels Vørsel zeichnen eine Linie an die Wand und unterhalten sich darüber, wie der Ablauf der Handlung strukturiert werden könnte. Mit Stichworten und Symbolen wird festgehalten, wie die Eröffnung aussieht, wann das Tannhäusermotiv einsetzt, wo die erste Filmfigur sterben muss und so weiter. Die beiden inszenieren sich selber vor der Kamera: Sie trinken ein Bier und amüsieren sich bestens beim kreativen Prozess. In der Selbstinszenierung und im Understatement dieser Drehbuchwerkstatt kommentiert der Film selbst den Entstehungsprozess und zeigt das Prinzip der Versuchsanlage, das in Triers sämtlichen Filmen eine wichtige Rolle spielt.

Vehikel der Kreativität
Vor diesem Hintergrund sind auch Filme wie Breaking the Waves und Dogville zu lesen. Von Trier stellt Regeln auf, um den schöpferischen Prozess in Gang zu setzen. Das deutlichste Beispiel für dieses Prinzip ist The Five Obstructions (2003), in dem von Trier seinen Lehrer und Mentor Jørgen Leth zwingt, dessen Kurzfilm The Perfect Human unter erschwerten Bedingungen nochmals neu zu schaffen. Von Trier hat den zwölfminütigen Film Dutzende Male gesehen und wurde – nach eigener Aussage – massgeblich davon beeinflusst. Parallel zu den Dreharbeiten von Dancer in the Dark und Dogville entwickelte er von 2000 bis 2003 diese Studie über eine umgekehrte Lehrer-Schüler-Beziehung: Leth (geb. 1937) hat sich auf die Insel Haiti zurückgezogen. Sein fast zwanzig Jahre jüngerer Schüler von Trier zwingt ihn nun, sich wieder der Herausforderung des Filmschaffens zu stellen. Sie vereinbaren, dass der Kurzfilmklassiker gleich fünfmal neu geschaffen werden soll, jeweils unter neuen, erschwerenden Bedingungen. Von Trier inszeniert sich dabei selbstironisch als kleiner Diktator, der seinem Lehrer rhetorische Fallen stellt und fortlaufend aberwitzige Konstellationen erfindet, um die Adaptionen des Kurzfilms zum Scheitern zu verurteilen. Die Provokation weckt jedoch den Ehrgeiz von Leth. Im Wechselgespräch entstehen so vier überraschende Kurzfilme: Je diktatorischer und autoritärer Lars von Trier auftritt, desto mehr kreative Energie weckt er bei seinem Lehrer.
Die Hindernisse sind somit stets ein Vehikel für die Kreativität, das Spielmaterial auferlegter Selbstdisziplin. Das berühmte Dogma 95 hat von Trier nicht zuletzt aufgestellt, um gegen dessen Regeln aufbegehren zu können. So ist es nicht erstaunlich, dass er selbst mit Idioten (1998) nur einen einzigen Dogma-Film gedreht hat und sich anschliessend von diesem ästhetischen Programm verabschiedete.

Fürchterlich und faszinierend
In der Retrospektive ist eine besondere Perle zu finden, die selten gezeigt wird. Es handelt sich um Medea, eine Fernsehadaptation, die auf einem Drehbuch des dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer beruht. Sie entstand 1988 noch vor Europa, der von Trier den internationalen Durchbruch brachte. Medea ist eine Hommage an den Altmeister, die sich formal an dessen Stummfilm-Ästhetik anlehnt. Von Trier bleibt jedoch nicht bei der Vorlage von Euripides und dem Drehbuch von Dreyer stehen, sondern spitzt diese zu. Medeas grausamer Entschluss, die eigenen Kinder zu töten, wird verschärft, indem der ältere Sohn als Mithelfer gezeigt wird – eine unerhörte Auslegung. Im Moment der grausamen Rache schreitet Medea mit ihren beiden Knaben auf einen Hügel, um sie an einem verdorrten Baum aufzuhängen. Von Trier visualisiert den Zorn und die Kraft von Medea in erschütternden Bildern, in einer stilisierten Landschaft, die von den Naturelementen durchwogt wird. Das tragische Finale ist fürchterlich und faszinierend zugleich.
Charles Martig

Charles Martig ist Filmpublizist und Theologe. Er promovierte über Lars von Trier: Kino der Irritation. Lars von Triers theologische und ästhetische Herausforderung, Schüren 2008.