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Russisches Kino: Eine Entdeckungsreise: Abseits der grossen Trampelpfade

Unser Filmdozent Fred van der Kooij widmet seine traditionelle Vorlesung diesen Herbst dem Filmkontinent Russland und lädt ein zu einer Entdeckungsreise, welche die ewig gleichen Sehenswürdigkeiten links liegen lässt: vom vorrevolutionären Stummfilm über den verpönten sozialistischen Realismus, vertriebene und dissidente Filmschaffende bis zu postsowjetischen Lakonikern. Einleitend seine kleine Reiseankündigung. Vom russischen, zumal vom sowjetrussischen Film kennt jeder, der einigermassen regelmässig das Filmpodium besucht, Namen wie Eisenstein, Pudowkin und Wertow. Womöglich hat der eine oder die andere gar jenen Dowschenkos im Ohr. Und dass diese grosse Kinokultur mit Tarkowskij ihren ebenso fulminanten Untergang erlebte, konnten gewiss noch einige von Ihnen hautnah im Dunkel der Säle miterleben.
Zurück blieben Leinwanderinnerungen an fettleibige Kapitalisten und immerzu lächelnde Proleten. Doch neben kolonnenweise auffahrenden Traktoren und jedem Gegenwind trotzenden Fahnenmeeren gab es dazu gratis und franko Bildexperimente voller kühner Kamerapositionen und rasanter Schnitte. Sie waren eigentlich dazu da, dem Betrachter verwegenste Botschaften einzuhämmern, erregten aber meist nur das Entzücken der westlichen Intelligenzia.
Und dennoch ist das nicht die ganze Geschichte. Ein Jahrhundert lang hat das russische Kino Filme von einer überraschenden Vielfalt hervorgebracht, und auch wenn es mittlerweile müssig anmuten mag, darin nach den «Stimmen der Opposition» zu fahnden: Nicht alles, was der Staat in dieser Zeit förderte, war linientreuer Agitprop, und bei weitem nicht alles, was heute als «sozialistischer Realismus» – meist ungesehen – verdammt wird, ist einfach nur Müll.
Ebenso wenig gewürdigt scheint mir bislang die Arbeit all jener Filmleute, die ins Exil gingen – zumeist nach Paris, wo sich etwa in den zwanziger Jahren um den Schauspielerstar Ivan Mosjoukine eine ganze Produktionsgruppe versammelte. Mosjoukines Stil wies nicht nur auf Louis Jouvet voraus, sondern beeinflusste auch in seinem Heimatland Experimente, die Lew Kuleschow mit seiner Truppe durchführte. Dieser Regisseur wiederum geistert bis heute durch die Fachliteratur wegen einer Technik, mit der er wahrscheinlich nichts am Hut hatte: dem ominösen Kuleschow-Effekt. In seiner ersten Filmschule der Geschichte soll er dazu – so die Legende – Aufnahmen eines Suppentellers, eines kleinen Mädchens und einer Leiche mit der immer gleichen Einstellung eines Schauspielers zusammenmontiert haben, worauf alle Zuschauer die Reaktionsfähigkeit jenes Darstellers gelobt hätten, obwohl dieser zwangsläufig immer den gleichen Ausdruck zeigte. Dass es sich bei diesem Darsteller ausgerechnet um den quecksilbrigen Mosjoukine gehandelt haben soll, bringt die Glaubwürdigkeit dieser Demonstration bereits ins Wanken. Mehr noch aber spricht der Umstand dagegen, dass Kuleschow in seinen Filmen das absolute Gegenteil «seines» Effekts praktizierte. Bei ihm herrscht nämlich eine Extravaganz des Agierens vor, die bald darauf von Kosinzew und Trauberg in ihrer «Fabrik des exzentrischen Schauspielers» auf die Spitze getrieben werden sollte.

Politisch? – Nur am Rand.
Sie merken, wir befinden uns bereits in Gebieten, die man nicht unbedingt mit politischen Lehrstücken à la Eisenstein in Beziehung bringt. Und tatsächlich gab es auch in der Sowjetunion Begabungen, die sich eher am Rande für Politik interessierten. Abram Room etwa gehörte zu ihnen. Sein Dritte Kleinbürgerstrasse (1927, auch bekannt als Bett und Sofa) wird seit Langem zu den Meisterwerken der Stummfilmzeit gerechnet. Aber nicht weniger bedeutend ist sein bis 1974 verbotener Film Ein strenger junger Mann (1934), ein eindrückliches Beispiel für den innovativen Umgang mit den Tücken des frühen Tonfilms. Überhaupt zeugt die Klangbehandlung in den frühen dreissiger Jahren von grosser Ingeniosität und steht den weitaus berühmteren Stummfilmexperimenten in Nichts nach. Auch das gilt es zu entdecken.
Als weitere Kostprobe sei hier noch ein Regisseur aus der späteren Sowjetzeit genannt, für die in der westlichen Wahrnehmung vor allem das oft etwas mystisch verquaste Werk Andrej Tarkowskijs steht: Alexej German, den bei uns nur wenige Spezialisten kennen, dessen Bedeutung aber in nichts hinter jener seines weit berühmteren Kollegen zurücksteht. In den gut vierzig Jahren, die er als Cineast schon aktiv ist, konnte er nur fünf Filme fertigstellen. Ein sechster ist dem Vernehmen nach seit 2007 in Arbeit.
Dass Germans Filme grösste Schwierigkeiten mit der Zensur hatten, verwundert nicht angesichts seiner illusionslosen Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Da er diese Kritik aber in Ereignisfolgen packte, die ein gerüttelt Mass an Geschichtskenntnissen voraussetzen, eignete er sich für den Westen schlecht als Vorzeigeoppositioneller. So blieben seine technisch brillanten und den Schauspielern alles abverlangenden Bildertaumel unverdienterweise ein Geheimtipp.
Ähnliches lässt sich nicht von Alexander Sokurow sagen, der mit seinem Russian Ark (2002) immerhin eine kleine Sensation landete. Aber der Rest seines Werks, seltsam pendelnd zwischen tarkowskijartigem Mystizismus und höchst originellen Mischformen von Dokumentar- und Spielfilm, leuchtet nach einer kurzen Erfolgsphase in den neunziger Jahren nur noch selten in Kinosälen auf. Gerade aber die besagte Legierung aus Fakt und Fantasma prägt das Beste im russischen Film der Gegenwart, etwa all das Staunenswerte, das uns Sergei Dwortsewoi in Glück und Brottag mit grösster Gelassenheit als dokumentarisch verbürgtes Geschehen präsentiert. Auch solches lässt sich am ehesten abseits der grossen Trampelpfade entdecken. Der Kapitalismus hat an der russischen Filmkunst nämlich einen Schaden anrichtet, der jenem der früheren Funktionärsästhetik gespenstisch ähnelt.
Fred van der Kooij