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Víctor Erice: Filme wie Gemälde

El espíritu de la colmena, El sur und El sol del membrillo: Nur drei lange Filme hat der 1940 geborene Spanier Víctor Erice geschaffen; die Kritik hat sie immer wieder als rare Kostbarkeiten gelobt. Nun liegen sie in neuen Kopien vor und wir sind sicher: Wer diese bildstarken Meditationen über die vergehende Zeit und die Macht der Vorstellungskraft gesehen hat, wird sie nicht so leicht vergessen. Freudig schreiend rennen Schulkinder einem Lastwagen hinterher. Das fahrende Kino bringt Abwechslung in das zerfallende Dorf auf der kastilischen Hochebene. Alte und Junge, fast die ganze Gemeinschaft scheint sich da zusammenzufinden, um den Horrorfilm Frankenstein anzusehen. Die kleine Ana schaut besonders gebannt: Warum hat das Monster das Mädchen umgebracht? Warum wurde das Monster getötet? Da nützt es wenig, dass Anas ältere Schwester Isabel abends im Bett alles zum «Kinotrick» erklärt, denn gleichzeitig versichert sie glaubwürdig, dass das Monster jede erdenkliche Gestalt annehmen könne. Wer mit ihm befreundet sei, könne es sogar jederzeit anrufen. Fortan wird Ana das Monster überall vermuten, in der ganzen unwirtlichen Welt um sie herum, wo sich bald alle Erfahrungen zu einem Ganzen fügen: So wie das Mädchen im Film dem Monster seine Blumen schenkt, bietet sie einem Deserteur, der sich in der verlassenen Scheune versteckt, ihren Apfel an, später Kleider und die Uhr ihres Vaters. Der Soldat antwortet auf diese Gesten der Freundschaft mit einem Zaubertrick. Als der bald darauf von der Guardia Civil erschossene Flüchtling im improvisierten Kinosaal aufgebahrt wird und der Vater in der Scheune bei den Blutspuren auftaucht, scheint ein Zusammenhang zwischen dem Tod ihres neuen Freundes und ihrem Vater zu bestehen: Ist er etwa das wahre Monster?

Der Schatten des Bürgerkriegs
Víctor Erice, geboren 1940 im nordspanischen Carranza, hat – wie Ana aus seinem Erstling El espíritu de la colmena (Der Geist des Bienenstocks) (1973) – seine Kindheit unmittelbar nach dem spanischen Bürgerkrieg (1936–39) erlebt. Dieser Krieg, der das Land über Familien und Generationen hinweg zerrissen und den Verlierern jede Perspektive genommen hat, ist eines der wiederkehrenden Themen seiner Filme. Zu den Frustrierten zählen auch Anas Eltern; sie sind Fremdlinge im abgelegenen Dorf. Auf Fotos erkennen wir sie als junge Studenten in Salamanca, doch jetzt haben sie sich ganz auf sich selbst zurückgezogen: der Vater als obsessiver Bienenforscher, die Mutter als Briefeschreiberin an einen geliebten, vielleicht nur imaginierten Menschen. Die offene Neugierde, mit der Ana die kleine Welt um sich herum erkundet, hat ihr Vater längst aufgegeben, er scheint so benommen wie das Bienenvolk, das er mit Rauch betäubt.
Auch für Estrella in El sur (Der Süden), dem zehn Jahre später entstandenen Zweitling Erices, wird immer deutlicher, wie prägend der Bürgerkrieg für das Familienleben war und noch ist. Während Ana und Isabel fast ganz auf sich gestellt sind und zwischen Eltern und Kindern Sprachlosigkeit herrscht, ist die Beziehung zwischen der Achtjährigen und ihrem Vater Agustín sehr eng, ja innig; beide verbindet die Gabe, mit Pendel und Wünschelrute umgehen zu können. Offenkundig ist die aus Südspanien stammende Familie immer wieder umgezogen, bis der Vater im Spital einer Kleinstadt im Norden endlich eine Anstellung gefunden hat; die Mutter, eine Lehrerin unter Berufsverbot, unterrichtet nur noch die eigene Tochter.
Hatte ein Film in El espíritu de la colmena seiner Protagonistin Ana das Eintauchen in eine Fantasiewelt ermöglicht, so sind es für Estrella Postkarten: in einer Zigarrenschachtel aufbewahrte, altmodisch anmutende kolorierte Stadtansichten von Sevilla, mit Palmen, Flamencotänzern und Damen in prächtigen Roben. Der Süden wird für sie zum Sehnsuchtsort, zum «Ort, wo es nie schneit», und gleichzeitig zum Schlüssel für das Verständnis des geheimnisvollen Vaters. Bei ihrer Erstkommunion erfährt sie von Milagros, Agustíns aus dem Süden angereisten ehemaligem Kindermädchen, dass zur Zeit der Republik der Vater zu den «Guten» und der Grossvater zu den «Bösen» gehört hat; eine Situation, die sich mit dem Sieg Francos ins Gegenteil verkehrt und zur Entzweiung der Familie geführt hat. Zum Süden gehört aber auch jene andere Frau im früheren Leben ihres Vaters, deren Existenz Estrella auf die Spur kommt und die er offenbar nicht vergessen kann.

Vermeer, Caravaggio, Velásquez
Erices Filme bestechen nicht nur mit ihren suggestiven, fast traumwandlerischen Geschichten ums Erwachsenwerden, sondern ebenso durch ihre Bildkomposition, Farbgestaltung und Lichtführung. Die vorherrschenden ockerfarbenen Landschaften von El espíritu de la colmena und das gelbliche Licht, das durch die Fenster dringt, erinnern an Gemälde von Vermeer, während die schärferen Kontraste in El sur an Caravaggio oder de La Tour denken lassen; einzelne Bildkompositionen sind fast schon Nachinszenierungen grosser Gemälde – etwa die Einkleidung zur Erstkommunion in El sur, die Velázquez’ «Las Meninas» aufgreift. Neben der Bild- und Lichtgestaltung fällt auch der ausgesuchte Umgang mit dem Ton auf. Erices Filme sind voller Klänge, deren Herkunft nicht immer klar erkennbar ist, die aber die Stimmung entscheidend prägen, wie etwa das heisere Hundegebell, als das Fehlen von Agustín entdeckt wird.
Nicht minder wichtig sind die Bild- und Tonmetaphern. Die emotionale Gefangenheit von Anas Familie drückt sich bildhaft bis in die bienenwabenartigen Fensterscheiben aus, und die Verwirrung über das unerklärliche Verhalten des Vaters, zu dem Estrella ihre Mutter befragt, findet ihren Ausdruck im Wickeln eines roten Wollfadens: Estrella lässt das Knäuel fallen, als sie einsieht, dass sie der Mutter keine Erklärung abringen kann. Erices Kunst besteht darin, Schlüsselmomente beiläufig in seine Filme zu integrieren und zu verdichten. Dann etwa, wenn Agustín in El sur im Café Oriental den Brief seiner früheren Geliebten liest, mit dem sie ratlos auf seine Kontaktaufnahme nach vielen Jahren reagiert, und wir gleichzeitig hören, wie nebenan jemand ein Klavier stimmt. Selten wurde das Bemühen einer Figur, ihre widersprüchlichen Gefühle zu ordnen, schöner ausgedrückt.

Vom Festhalten der Zeit
Auf den ersten Blick erscheint El sol del membrillo (Die Vergänglichkeit des Lichts), Erices inzwischen fast zwanzig Jahre alter jüngster Langfilm, mit den beiden früheren wenig gemein zu haben. Er oszilliert zwischen Dokumentation und Fiktion und folgt in genauer Chronologie dem Projekt des Malers Antonio López, einen Quittenbaum in seinem Garten so zu malen, dass er die herbstlichen Sonnenstrahlen auf den Früchten einfängt. So peinlich genau, wie der Maler zu Werk geht und etwa akribisch verzeichnet, wie die reifenden Früchte immer tiefer hängen, folgt der Regisseur der voranschreitenden Arbeit und schildert gleichzeitig den Alltag des Malers, der uns immer vertrauter wird; er zeigt aber vor allem auch die Schwierigkeit, das Projekt durchzuziehen, wenn etwa das Wetter nicht mitspielt. Das Plastikzelt, mit dem der Maler seinen Quittenbaum und sich selbst vor dem Regen schützt, wird zum Sinnbild für den müssigen Versuch, den Augenblick einzufangen. Antonio López gilt als einer der herausragenden realistischen Maler der Gegenwart; sein Werk umkreist die Stadt Madrid und seine nächste Umwelt, die er sich malend immer wieder neu aneignet – ähnlich, wie in El espíritu de la colmena und El sur die jungen Hauptfiguren versuchen, aus den Elementen ihrer unmittelbaren Erfahrung ein Weltverständnis zu erschaffen. Gleichzeitig entspricht López’ bedächtige, sorgfältige Arbeitsweise auch jener von Erice selbst.
Ganz so langsam sei er nicht, dass er nur alle zehn Jahre einen Film fertig bringe, wehrte sich Erice in einem Interview. Tatsächlich hat er neben seiner Arbeit als Autor und Essayist – 1986 hat er zusammen mit Jos Oliver das spanische Standardwerk über Nicholas Ray publiziert – auch als Regisseur Fernseh- und Werbeaufträge übernommen und an mehreren Filmprojekten gearbeitet, die schliesslich nicht realisiert wurden. 2002 beteiligte er sich am Projekt Ten Minutes Older, bei dem Regisseure aus der ganzen Welt eingeladen waren, einen Kurzfilm zum Thema Zeit zu drehen. Entstanden ist Alumbramiento (wörtlich: «Entbindung»; internationaler Titel: Life Line); auch mit diesem Film kehrt Erice zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Bürgerkrieg.
Mit Abbas Kiarostami zusammen hat Erice vor wenigen Jahren eine Ausstellung realisiert, die nach Barcelona und Madrid auch im Pariser Centre Pompidou zu sehen war. Tatsächlich verbinden den Spanier und den Iraner nicht nur das fast auf den Tag gleiche Alter (Kiarostami wurde am 22., Erice am 30. Juni 1940 geboren) und der Status als «Meister» unter den jüngeren Filmschaffenden ihres Landes: Ihre Filme kreisen auch um ähnliche Themen – Landschaft, Kindheit, Erinnerung, das Vergehen von Zeit – und sie haben einen ähnlichen Umgang mit Fiktion und Realität. Leider kann das Kernstück der Schau – ein mehrteiliger Video-Briefwechsel unter dem Titel Correspondencias – ausserhalb des Ausstellungszusammenhangs nicht gezeigt werden.
Corinne Siegrist-Oboussier