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Jacques Becker: Mit lakonischer Präzision

Der ehemalige Renoir-Assistent Jacques Becker (1906–1960) gilt als Meister der Personen- und Milieubeschreibung: genau, unsentimental und dabei doch warmherzig. Beckers Werk umfasst kleine Alltagsgeschichten und Kriminaldramen, opulente Kostümfilme ebenso wie den auf das Nötigste reduzierte Ausbrecherfilm Le trou. Als er seinen Sohn Jean mit der Besetzung seines letzten Films Le trou betraute, gab Jacques Becker ihm einen Rat, den dieser nie vergessen sollte. Er erzählte ihm, wie er dreizehn Jahre zuvor die weibliche Hauptdarstellerin für Antoine et Antoinette gefunden hatte. Bei den Probeaufnahmen verlangte er von den Kandidatinnen, ihren Text aufzusagen und gleichzeitig Wäsche aufzuhängen. Nur ganz wenigen gelang es; schliesslich bekam die unbekannte Claire Maffei die Titelrolle.
Gestische Wahrhaftigkeit mit der richtigen Intonation zu vereinen, war für diesen Regisseur das entscheidende Kriterium für einen guten Schauspieler. Seine Figuren zeichnete er ganz pragmatisch. Sie offenbaren sich nicht in Erklärungen, sondern in ihren Handlungen und Entscheidungen. In Casque d'or spürt der Zuschauer, wie sehr die Vergangenheit auf den Hauptfiguren lastet, aber letztlich werden Marie und Manda vor allem dadurch charakterisiert, welche Risiken sie eingehen für die Liebe, die sie beide ergriffen hat. Auch über die Untersuchungshäftlinge in Le trou erfährt der Zuschauer nur das Nötigste. Welcher Verbrechen sie angeklagt sind, ist im Film unerheblich. Entscheidend ist, dass jeder von ihnen im Falle einer Verurteilung mindestens zehn Jahre Haft zu verbüssen hat.
Seine Filme hat Becker einerseits mit der präzisen Lakonie eines amerikanischen Genreregisseurs inszeniert. Er bewunderte Ernst Lubitsch, Erich von Stroheim und King Vidor, mit Howard Hawks war er eng befreundet. Sein Regiedebüt Dernier atout ist eine komödiantische Hommage an die Kriminalfilme Hollywoods. Die Montage, die in Antoine et Antoinette eingangs Schauplätze und Figuren einführt, erinnert an die semi-dokumentarischen Polizeifilme, die in Hollywood nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Mode kamen. Die Wohnung des Ehepaares ist so dunkel ausgeleuchtet, als sei dies ein heiterer Film noir. Dennoch hätte dieser Regisseur nicht französischer sein können: Die alternden Gangster in Touchez pas au grisbi träumen nicht vom sozialen Aufstieg, der ihre amerikanischen Kollegen umtreibt. Sie üben ihren Beruf aus Lust am Wohlleben und an der Gemeinschaft aus.

Das Abenteuer des Alltäglichen
Becker stammte aus dem Pariser Grossbürgertum. Seine Familie betrieb ein Modegeschäft in der Rue de Rivoli; eine Welt, der er in Falbalas und Rue de l'Estrapade ein Denkmal nicht ohne ironische Widerhaken setzt. Diese Herkunft mag die Eleganz seiner äusseren Erscheinung erklären, nicht aber die stilistische und moralische Eleganz seiner Filme.
In seiner Jugend muss er ein Dandy gewesen sein: Freundschaften schloss er ohne Vorurteile, suchte sie in allen Gesellschaftsschichten. Seine Filme flanieren ebenso freizügig zwischen den sozialen Sphären (auch wenn seine Kriminalfilme und Montparnasse 19 häufig deren Unvereinbarkeit betonen), ihn reizt es, die Gepflogenheiten und Rituale eines spezifischen Milieus aufmerksam zu erkunden. Becker ist fasziniert von der Idee der Stammeszugehörigkeit – niemand ausser Hawks versteht es so gut wie er, Gruppen zu filmen und den Einzelnen zu isolieren –, er überprüft von seinem ersten Meisterwerk Goupi Mains Rouges an unerbittlich den Ehrenkodex verschworener Gemeinschaften. Loyalität und die Gabe zur Freundschaft sind die Eigenschaften, an denen er seine Charaktere unweigerlich misst. Sein Ali Baba erfreut sich nicht nur aus Eigennutz des Schatzes, den er in der Höhle der vierzig Räuber entdeckt hat. Er begreift sich vielmehr als Mittelsmann Allahs, der nun seine Freunde und Nachbarn mit dem Notwendigen und dem Überflüssigen beschenken kann.
Die Idee des Bündnisses ist allen Filmen Beckers gemeinsam. Nicht von ungefähr sind die Hauptfiguren von Casque d'or und Antoine et Antoinette Zaungäste bei Hochzeiten. Beckers Ehekomödien handeln von der komplizierten Logistik, das gemeinsame Glück aufrechtzuerhalten. Das gelingt nur, wenn man – wie Isabelle, die in Rue de l'Estrapade nachts ihren Gatten mit einer Taschenlampe mustert –, bereit ist, das Vertraute mit neuen Augen zu betrachten. Nicht nur in seinen Komödien sucht Becker das Abenteuerliche im Alltäglichen. Auch in seinen Kriminalfilmen räumt er dem Beiläufigen, scheinbar Irrelevanten einen unerhört grossen Platz ein. Der nächtliche Imbiss der Gangster in Touchez pas au grisbi dauert länger als die finale Schiesserei. Eine hübsche Ironie: Ausgerechnet jener Film, der in den fünfziger Jahren die Welle französischer Gangsterfilme auslöste, spart das Unverzichtbare aus – er setzt erst nach dem letzten Coup ein –, um seine Helden bei den banalsten Verrichtungen zu zeigen. Becker betrachtet Figuren vorzugsweise in den Momenten, in denen die Last, eine Geschichte zu erzählen, von ihnen abgefallen ist. Bei seinen zahlreichen Essensszenen nimmt er sich auch noch die Zeit, am Ende das Aufsammeln der Krümel zu zeigen.

Die Zeit in Nahaufnahme
Becker war ein Zögernder, er liess sich Zeit mit seinen Filmen, verschob Dreharbeiten oft genug, bis der richtige Darsteller frei war. Die längste Zeit verbrachte er im Schneideraum. Zusammen mit seiner Cutterin Marguerite Renoir gab er jedem seiner Filme einen eigenen Rhythmus. Vor seiner Filmkarriere hatte er eine Ausbildung als Musiker absolviert und schon in jungen Jahren seine eigene Jazzband gegründet. Die Montage seiner Filme ist lyrisch, schillert zwischen Klassizismus und Moderne. Bei genauerer Betrachtung verblüfft sie: Abblenden setzt er nur selten dann, wenn man sie erwartet, oft sogar vor dem vermeintlich entscheidenden Moment. Das Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Kamerafahrten, von Panorama- und Reissschwenks, von bewegten und starren Einstellungen folgt einer unsichtbaren Logik, die ihm die Bewunderung von Kennern wie Alain Resnais eingebracht hat.
Das Tempo seiner Filme ist stets eigenwillig. Die Exposition von Antoine et Antoinette wirkt ungeheuer flott, rasend schnell werden die Akteure und das Milieu, ein Schmelztiegel unterschiedlichster Temperamente, vorgestellt. Ohne dass der Zuschauer es merkt, ist jedoch eine geschlagene halbe Stunde verstrichen, bis Becker überhaupt Anstalten macht, die Geschichte zu erzählen. Das filmische Verstreichen von Zeit ist seine schönste Sorge. Er materialisiert es, lässt es sicht- und hörbar werden. Den Bau einer Sanduhr zeigt er in Le trou mit bewundernswerter Ökonomie: Gerade ist das letzte Sandkorn vom oberen Röhrchen in das untere gefallen, da hört man das Schlagen einer Kirchturmuhr, das anzeigt, dass nun eine halbe Stunde vergangen ist. In vielen Sequenzen des Films hat man den Eindruck, die Geschehnisse in Realzeit mitzuerleben. Minutenlang zeigt er, wie die Häftlinge ein Loch in den Zellenboden schlagen. Die Ellipsen sind so diskret gesetzt, dass man sie nicht bemerkt.
Becker liebt das Hinauszögern. Beim «bal populaire» zu Beginn von Casque d'or muss erst einmal die Bühne gezimmert werden, auf der die Kapelle sodann zum Tanz aufspielt. In einer späteren Szene lässt Leca, der Anführer einer Bande von Ganoven, seine Untergebenen lasziv lange auf seine Anweisung warten, weil er sich erst einmal ein neues Rasiermesser holt. Eine gelassene Ungeduld regiert über die Zeitökonomie in Beckers Filmen. Er schaut seinen Figuren aufmerksam beim Warten zu, ist fasziniert von der Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Raymond, der treue Freund Mandas, nutzt die Zeit, in der der ihn verhörende Kommissar in einen Nebenraum geht, um ihm eine Zigarette zu stibitzen. Touchez pas au grisbi wirkt beinahe wie eine Wette des Regisseurs mit der eigenen Fantasie: Was kann alles geschehen, während eine Figur am Telefon auf den Gesprächspartner wartet? Diese diskreten Erzählexperimente sind nie vertane, sondern kostbare Zeit. Ein Regisseur, der sich so viel Musse für seine Figuren nimmt, muss ein grosszügiger Humanist sein.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin. Das französische Kino zählt zu seinen Lieblings- und Spezialgebieten.