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Flussfilme: Alles im Fluss

Flüsse sind ebenso attraktive wie erzählerisch ergiebige Filmschauplätze. Unsere Reihe mit herausragenden Filmen, die auf Flüssen oder in Flusslandschaften spielen, zeigt den Wasserlauf als Kontra- und Fluchtpunkt zivilisatorischer Bestrebungen: als gefährliche Wildnis, gebändigten Lebensraum oder naturbelassene Idylle. «Willst Du etwas erzählen, so folge einem Fluss.» Zugegeben, diese Redensart ist frei erfunden. Doch mit grosser Wahrscheinlichkeit gibt es sie so oder ähnlich im globalen Repertoire der dramaturgischen Weisheiten. Denn die Verwandtschaft zwischen dem Fliessen des Wassers und dem Fluss des Erzählens liegt auf der Hand und schlägt sich auch in der Sprache nieder: Erzählungen sprudeln los, fliessen bald munter, bald gemächlich, verzweigen sich in Haupt- und Nebenarme und nehmen plötzliche Wendungen, hinter denen sich Abgründe auftun, um ins Finale zu münden. Zu den Urformen der filmischen Reiseerzählung gehört neben dem Roadmovie daher der «Flussfilm». Der Fluss, zum Beispiel in Keatons Our Hospitality (1923), liefert Bewährungsproben à discrétion: gestaute Wassermassen, die sich unversehens über den Helden ergiessen, der todesmutige Sprung von der Klippe, die am Ufer auflauernden Feinde, die Überwindung von Stromschnellen in einer Nussschale, das Kentern und Beinahe-Ertrinken, schliesslich die akrobatische Rettung der Heldin am Wasserfall.
Weil das Weltkino in bald 120 Jahren eine unüberblickbare Menge solcher Szenen hervorgebracht hat, gehen wir in unserer Reihe nicht enzyklopädisch, sondern typologisch vor. Sie geht aus vom Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation, verortet am einen Pol den wilden Fluss, am andern den idyllischen, quasi renaturierten, dazwischen den gemeisterten und gezähmten Wasserlauf. Jede dieser Erscheinungsformen ist mit wiederkehrenden, im Lauf der Zeit vielfach variierten Handlungsmustern verbunden.

Der Weg in die Wildnis
Zum wilden Fluss – als solcher schon in unzähligen Filmtiteln auftauchend – gehört das unerforschte Land, die Terra incognita, die von den Rändern her befahren wird. Die typischen Helden der Wildnis-Erkundung via Fluss sind Eroberer wie die Conquistadores in Werner Herzogs Aguirre (1972) oder Forscher wie die Nilfahrer Stanley und Livingston, denen Hollywood schon 1939 ein erstes Denkmal setzte. In ihrem Gefolge finden sich Missionare und Hasardeure; ihre Erkundungen haben oft ein El Dorado oder eine geheimnisvolle Quelle zum Ziel. Je tiefer die Reise ins Landesinnere führt, desto gefährlicher wird die Wildnis, desto unfreundlicher machen sich an den Flussufern die Ureinwohner mit ihren Blasrohren und Pfeilbogen bemerkbar. So geraten die Flussfahrten landeinwärts zu Parabeln über kolonialistische Ahnungslosigkeit und Arroganz, die Protagonisten bezahlen ihre Hybris oft mit dem Tod. Nur Einzelne weichen vom dummdreisten Rudelverhalten ab, geraten aber meist unter die Räder der historischen Entwicklung wie die Priester in Roland Joffes The Mission (1986) oder der eine, durch die Liebe bekehrte englische Soldat in Terrence Malicks The New World (2005). Eine überraschende Variierung dieses Motivs bietet Bruce Beresfords Black Robe (1991), wenn französische Missionare im Québec des 17. Jahrhunderts nach langen Wirren eine kleine Schar Irokesen bekehren. Die tragische Ironie dieser Geschichte besteht in der «Verweichlichung» der Christianisierten, die vom weniger zivilisierten Indianerstamm am Oberlauf des Flusses immer schon drangsaliert wurden und jetzt ausgelöscht werden.
Das Denkmuster, das «Wildnis-Flussfilme» variieren, ist jenes der Geburt der Zivilisation aus der Barbarei – wobei sich das Verhältnis zwischen Barbaren und Zivilisierten in neueren Filmen oft umkehrt. Es liegt auch dem Kriegsfilm Apocalypse Now (Francis Ford Coppola, 1979) und dem Wildwasserdrama Deliverance (John Boorman, 1972) zugrunde, die Regressionsformen der Zivilisation in der Flusswildnis zeigen. In Coppolas Vietnamisierung von Joseph Conrads Kongo-Novelle «Heart of Darkness» sind die Soldaten eines selbstherrlichen Warlords am Oberlauf des Mekong zu Eingeborenen mit Kriegsbemalung und archaischen Ritualen regrediert; bei Boorman entpuppen sich die am Fluss wohnhaften «Hinterwäldler» vier Touristen gegenüber als mordlustige Barbaren.

Gemeistert und gezähmt
Das zweite typische Flussfilm-Szenario ist die gebändigte Wildnis und ihre halbwegs domestizierte Einwohnerschaft, das Ursetting zahlloser Western. Rückfälle in vorzivilisierte Zustände sind hier noch jederzeit möglich, und noch immer kann der Fluss ein mächtiges Hindernis darstellen wie in Red River (1948) von Howard Hawks oder einen riskanten Verkehrsweg wie in River of No Return (1954) von Otto Preminger. Gerade Premingers Film aber zeigt, dass die Gefahren in diesem Setting grundsätzlich anders wahrgenommen werden als im Wildnis-Flussfilm: Nur noch punktuell lebensbedrohend, werden sie zur sportlichen Herausforderung des Helden, die existenzielle Gefährdung mutiert zum Abenteuer, die Natur zur pittoresken Kulisse und heilen Gegenwelt zu den Zeltstädten der Goldgräber mit ihren rüden Sitten. In den Wildwasserszenen schliesslich kommen bei Preminger Rückprojektionen zum Einsatz, die allen Gefahren etwas Irreales und grundsätzlich Beherrschbares verleihen. Erst der neuere Hollywood-Realismus, wie ihn beispielsweise Curtis Hanson in The River Wild (1994) praktiziert, malt die Unberechenbarkeit der Stromschnellen naturalistisch aus. An der Logik des Abenteuerfilms ändert das aber nichts: Der Fluss stellt den Mut und die Moral der Helden auf die Probe, nicht aber ihre Existenz in Frage.
Wird der Fluss noch stärker gebändigt, so «verbürgerlicht» er schliesslich zum Kanal. Das Urgenre dieses Szenarios ist der Schleppkahnfilm, wie er im Frankreich der zwanziger und dreissiger Jahre blüht. Aus heutiger Sicht mögen manche seiner Figuren zwar auch noch abenteuerlich wirken, so etwa der durchtätowierte Michel Simon in Jean Vigos L'Atalante (1934). In der Regel aber sind sie Arbeiter und Kleinbürger, und ihr Handlungsspielraum ist begrenzt: Auf Deck und erst recht in den Kombüsen und Kabinen spielen sich Dreiecksgeschichten, Dramen der Enge und Ausweglosigkeit ab, und der Kanal, der in festen Bahnen fliesst, ist ihr bildhaftes Äquivalent.
Ein zivilisatorisches Gegenstück zum Kanal ist der Damm, die zweite grosse Errungenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gegen die Urgewalt des Wassers bei Dauerregen und Flut. Elia Kazans Wild River (1960) etwa beginnt mit erschütternden dokumentarischen Aufnahmen der 1930er Jahre, in denen der Tennessee noch regelmässig über die Ufer trat und Tod und Verwüstung brachte. Doch auch die Regulierung und Nutzung des Flusses durch Staudämme, die der Held des Films im Namen der Behörden durchsetzen soll, bedeutet für viele Anrainer den Verlust von Heimat, Hab und Gut, da ganze Landstriche für immer geflutet werden. Aus Kazans ungeschminkter Darstellung geht hervor, dass der technische Fortschritt und seine technokratische Abwicklung in der freiheitlichen amerikanischen Gesellschaft genauso unzimperlich durchgesetzt wurde wie im zeitgenössischen autoritären China des Drei-Schluchten-Damms, von dessen zwangsumgesiedelten Opfern Jia Zhang-ke in Still Life (2006) mit eindringlicher Nüchternheit erzählt.
Letzte Steigerungsstufe der Denaturierung des Flusses sind die trüben Stadtflüsse, die etwa in Kohei Oguris Schmutziger Fluss (1981) durch das Osaka der fünfziger Jahre oder in Lou Yes Suzhou River (2000) durch das moderne Shanghai fliessen. Selbst in diesem Zustand bewahrt der Fluss bei Lou Ye jedoch eine magische Aura.

Verlorene Paradiese und Idyllen
Selbstredend wirkt auch der unberührte Fluss nicht nur wild und bedrohlich, sondern ebenso oft beruhigend und lieblich. Und natürlich ist auch der gezähmte und bewirtschaftete Fluss ein Ausflugs- und Ausstiegsort, der Zivilisationsopfern äussere und innere Reinigung verspricht. Das Erfrischungsbad – von der burlesken bis zur spirituellen Variante – ist denn auch kathartischer Moment unzähliger Flussfilme, und um die Flussfischerei werden, etwa in Robert Redfords A River Runs Through It (1992), abendfüllende Beschwörungen heiler Welten gebaut.
Die klügeren Filme in derlei naturbelassenen und renaturierten Szenerien versenken psychologische und gesellschaftliche Konflikte allerdings nicht einfach im Wasser. Jean Renoirs Une partie de campagne (1936) etwa endet auch symbolisch im Regen, und Robert J. Flahertys letzter grosser Semidokumentarfilm, Louisiana Story (1948), kontrastiert die unberührte Sumpf- und Flusslandschaft des Mississippideltas mit Bildern einer Ölbohrung mitten in der Idylle. Der Fortschrittsglauben ist in Flahertys Film, den eine Ölgesellschaft finanzierte, zwar noch weitgehend intakt, eine gewaltige Gasfontäne (vom späteren Direct-Cinema-Kameramann Richard Leacock genauso grandios gefilmt wie die unberührte Natur) kann mirakulös gebändigt werden. Vor dem Hintergrund neuerer und neuster Umweltkatastrophen aber ist uns beim Anblick dieser historischen Bilder der Gefährdung bewusst, wie schwer es ist, verlorene Paradiese zurückzugewinnen.
Andreas Furler