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Arthur Penn: Ein europäischer Amerikaner

Der amerikanische Regisseur Arthur Penn, der im vergangenen Jahr 88-jährig verstorben ist, hat ein schmales, aber gewichtiges Werk hinterlassen. Es reicht vom revisionistischen Westerndebüt in den späten fünfziger Jahren über die New-Hollywood-Schlüsselfilme Bonnie and Clyde und Little Big Man bis zu melancholisch gebrochenen Krimis der Nach-Watergate-Zeit und wirft einen skeptischen, quasi europäischen Blick auf amerikanische Legenden und Neurosen. Seit fast anderthalb Jahrhunderten streiten Historiker darüber, ob das einzige existierende Foto von Billy the Kid möglicherweise seitenverkehrt gedruckt wurde. Schenkt man der Überlieferung Glauben, dann war der berüchtigte Outlaw Linkshänder. Der Titel von Arthur Penns Kinodebüt verspricht keine endgültige Klärung; The Left Handed Gun verrät vielmehr, wie früh den Regisseur von Bonnie and Clyde bereits der Prozess der Legendenbildung, die Suche nach den Wurzeln amerikanischer Folklore faszinierte.
Penn zeichnet ein denkbar unheroisches Bild des jungen Gesetzlosen. Billy the Kid ist ein neurotischer Rebell ohne Grund, dessen Vorstellungen von Recht und Gesetz, von Vergeltung und Erlösung dumpf und infantil anmuten und der den Verlockungen des Ruhms hilflos gegenübersteht. Er steht in Penns Werk am Anfang einer Galerie von Aussenseitern, die ihre Frustrationen und Wünsche nicht artikulieren können und an der Gesellschaft scheitern: Billys Linkshändigkeit führt auf eine Spur, die sich durch Penns gesamtes Werk ziehen wird. Seine Charaktere werden dem Bild nicht gerecht, das die Legende von ihnen zeichnet. Sie entsprechen nicht den Tugenden der Professionalität und Beherrschung, mit welchen das Genrekino Hollywoods seine Helden üblicherweise ausstattet (nicht von ungefähr war Howard Hawks einer der erbittertsten Gegner von Penns Regiedebüt). Sie scheinen ungeeignet für die Rolle, die ihnen das Leben zuweist. Bonnie, Clyde und ihre Bande sind anfangs burlesk unbeholfene Bankräuber, die Titelfigur von Little Big Man ist eher ein Opportunist als ein wehrhafter Überlebenskünstler, die Pferdediebe in The Missouri Breaks beweisen einen erstaunlichen Mangel an Geschick. Dem Privatdetektiv Harry Moseby in Night Moves gebricht es an der lakonischen Souveränität eines Philip Marlowe oder Sam Spade: Die Neugierde des Detektivs wird traditionell durch seine Fähigkeit legitimiert, grössere Zusammenhänge zu durchschauen – aber Moseby muss sich am Ende von Penns melancholischstem Film eingestehen, nichts aufgeklärt zu haben.
Wie sein älterer Bruder Irving, der als Mode- und Porträtfotograf ein ebenso kühner Neuerer war, erhielt Arthur Penn prägende Impulse in der Begegnung mit der europäischen Kultur. Er hat in Florenz und am experimentellen Black-Mountain-College studiert, dem Bauhaus-Nachfolger in North Carolina, an dem die amerikanische Avantgarde erstmals mit den Ideen der europäischen Emigranten konfrontiert wurde. Im Actors Studio machte er sich mit den Lehren Stanislawskis vertraut, bevor er 1951 beim Live-Fernsehen begann. Mit seinen Kollegen John Frankenheimer, Sidney Lumet und Robert Mulligan verband ihn das Interesse an zeit- und sozialkritischen Stoffen. Fast zeitgleich debütierten sie Ende der fünfziger Jahre im Kino, dem sie eine neue, innovative Sprache erschliessen wollten.

Transatlantische Botschaften
Zehn Jahre später wurde Penn zu einer treibenden Kraft der Erneuerungsbewegung New Hollywood, weil er besonders empfänglich war für die Regelbrüche, die das europäische Kino damals wagte. Zumal den Regisseuren der Nouvelle Vague war er eng verbunden, nicht zuletzt, da sie zuvor als Kritiker massgeblichen Anteil an der Rehabilitation von The Left Handed Gun hatten, der in den USA bei Kritik und Publikum durchgefallen war. Die kühne Fragmentierung von Mickey One, einer opaken Parabel um Entfremdung und Paranoia, stellt unter den Studio-Produktionen der frühen sechziger Jahre gewiss die radikalste Adaptation europäischer Experimente dar. Der stetige Stilbruch, das Changieren des Erzähltons zwischen Schrecken und Komik in Bonnie and Clyde wiederum hat Jules et Jim von François Truffaut (für den das Drehbuch ursprünglich geschrieben worden war) viel zu verdanken. «Wir senden uns in unseren Filmen gegenseitig kleine Botschaften», beschrieb Penn damals diesen transatlantischen Stiltransfer.
Radikaler als andere US-Regisseure war Penn zu einer Aussenperspektive fähig. Seine Hinwendung zur europäischen Kultur schärfte seinen Blick auf Amerika, liess ihn unerbittlicher die Zerrissenheit des eigenen Landes erkennen, die Unreife einer Gesellschaft, die die eigenen Wertvorstellungen mit Gewalt durchsetzt, ohne deren Motive und Auswirkungen moralisch oder emotional ermessen zu können. Im Südstaatendrama The Chase und im Western Little Big Man stellte Arthur Penn die barbarische Widersprüchlichkeit seiner Heimat dar. Auch The Miracle Worker war für ihn mehr als ein Prestigefilm, mit dem sich Oscars gewinnen lassen. Er schildert die Selbstverständlichkeit der Aggression im Alltäglichen. Die Lehrerin Annie Sullivan versucht in der zentralen Szene, dem wilden, blinden und gehörlosen Mädchen Helen Keller Disziplin und Tischmanieren beizubringen. Das Zimmer hat Helen am Ende zwar nach einem Tobsuchtsanfall vollständig verwüstet, aber ihre Lehrerin kann den Eltern stolz verkünden: «Sie hat ihre Serviette gefaltet.»

Radikale Zeitgenossenschaft
The Miracle Worker und The Chase sind Werke des Übergangs, die eine neue Epoche ankündigen. In ihnen erprobt Penn die Revision der Darstellungsformen des Hollywoodkinos, die er danach weit entschlossener unterlaufen wird. Das elegische Ballett des Todes am Ende von Bonnie and Clyde sollte die Art, wie das amerikanische Kino Gewalt anprangert und zugleich zelebriert, für alle Zeiten verändern.
Penns Gangsterballade wurde auch deshalb ein so beispielloser Erfolg, weil sie den Zeitgeist traf. Sie revidiert die erzählerischen Mythen Amerikas im Licht der Umbrüche der sechziger Jahre, präsentiert das Bankräuberpaar als popkulturellen Gegenentwurf zum Establishment. Von Bonnie and Clyde an konnte sich in Penns Filmen eine Generation wiederfinden, die einen gesellschaftlichen Aufbruch versuchte und die Gewissheiten ihrer Eltern in Frage stellte. Alice's Restaurant und Four Friends sind empathische Porträts dieser Generation. Night Moves ist ein Schlüsselfilm über das Klima von Apathie und Orientierungslosigkeit, das nach den Kennedy-Morden und den Watergate-Enthüllungen herrschte. Der Agententhriller Target liefert Innenansichten der letzten Gefechte des Kalten Krieges.
Aber auch auf historischem Erzählterrain erwies sich Penn als ein wachsamer Chronist der Zeitströmungen. Bereits in The Left Handed Gun hatte das radikal Moderne seines Erzählgestus' die Zuschauer, Kritiker und Studiochefs irritiert. Praktisch zum ersten Mal waren in einem Western verstörende psychologische Untertöne vernehmlich. Paul Newman verkörpert Billy als unverstandenen jugendlichen Rebellen aus dem Geist der fünfziger Jahre, indem er dessen Neurosen ungehemmt im hochfahrenden Gestus des method acting auslebt. The Missouri Breaks ist ebenso sehr in seiner Entstehungszeit verhaftet: Man wäre nicht überrascht, wenn an den Lagerfeuern der nonkonformistischen Pferdediebe ein Joint herumgereicht würde. Und Little Big Man ist bis heutige der einzige Western über die Indianerkriege, in dem eine für das amerikanische Selbstverständnis unerhörte Vokabel fällt: Genozid.
Gerhard Midding