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Das erste Jahrhundert des Films: Die Jahrringe des Weltkinos

Die Filmgeschichtsreihe, die das Filmpodium 2011 lanciert, ist ein Langzeitprojekt: Während der nächsten zehn Jahre präsentieren wir in achtzig Durchläufen die wichtigsten Filme jeweils eines Jahres und erzählen so eine «Synchrongeschichte» des Weltkinos von 1900 bis 1999. Überblicksreihen zur Filmgeschichte gehören zum Filmpodium wie das Ei zum Huhn. Sie sind quasi seine Uraufgabe, moderner gesagt: seine Kernkompetenz. Unauslöschlich ist im Gedächtnis älterer Filmpodiumianer und -ianerinnen denn auch jene «Geschichte des Films in 250 Filmen» eingebrannt, die im Februar 1987 startete und fünf Jahre lang jeweils ein filmhistorisch bedeutendes Werk pro Woche präsentieren sollte. Sollte. Denn schon bald mussten die damaligen Leiter des Filmpodiums, Bernhard Uhlmann, Rolf Niederer und ab 1993 auch Martin Girod, zu Nummern wie 123b, c und d greifen, um der Überfülle an «unverzichtbaren Filmen» einigermassen Herr zu werden. Das ganze Unterfangen dauerte schliesslich gute neun Jahre, umso mehr hatten sich den Filmgeschichtssüchtigen bis dahin die Spielzeiten der Mammutreihe eingeprägt: Am Sonntag- oder Montagabend steuerte man die Nüschelerstrasse 11 quasi per Autopilot an. Alle nachfolgenden filmhistorischen Überblicke des Filmpodiums, so die «Hundert Jahre Kino in hundert Filmen» (1996–1999) oder «Eine Anthologie des Genrekinos» (2004–2005), werden bis heute überschattet von jener Mutter aller Filmgeschichtsreihen.
Mit dem neuen Überblick zur Filmgeschichte knüpfen wir an die legendäre Urreihe an, doch unter Vorzeichen, die dem seitherigen Lauf der Zeit Rechnung tragen. So ist die Jahrhundertchronik von vornherein auf eine Spielzeit von zehn Jahren (bzw. achtzig Programme) und einen Umfang von rund 500 Titeln angelegt. Vor allem aber unterteilen wir den mächtigen Stamm des Weltkinos nicht in epochale oder geografische Abschnitte, sondern in Jahrringe, welche alle Weltgegenden und Genres umspannen. Diese Unterteilung passt nicht nur am besten zu unserer Zeit der globalisierten Wahrnehmung und globalen Zusammenhänge, sondern eröffnet auch am meisten überraschende Perspektiven auf Parallelen und Unterschiede zwischen der filmhistorischen Evolution verschiedener Weltteile.
1989 etwa, im Jahr des Mauerfalls, kamen mit Krzysztof Kieślowskis Dekalog und Wassili Pitschuls Kleine Vera ein polnischer Mehrteiler und ein sowjetrussischer Film heraus, die sich, bei aller Unterschiedlichkeit, als gleichermassen hellsichtige Diagnosen der Orientierungskrise im zerfallenden Ostblock erweisen sollten, während amerikanische 89er-Filme wie Rob Reiners When Harry Met Sally oder Steven Soderberghs Erstling Sex, Lies, and Videotape für die relative Sorglosigkeit und die privaten Obsessionen westlicher Mittelschichten im gleichen historischen Moment stehen. Michael Moores Roger and Me und Spike Lees Do the Right Thing hingegen beschrieben, ebenfalls im gleichen Jahr, die prekären Zustände in den amerikanischen Unterschichtgettos.

Vorwärts in Dekadensprüngen
Das Beispielsjahr 1989 illustriert nebenbei, dass uns auch die Aufteilung in Jahrgänge die Qual der Wahl nicht erspart. Allein 1989 machten neben den erwähnten Filmen beispielsweise auch der meditative südkoreanische Zeitgeistfilm Warum Bodhi-Dharma in den Orient aufbrach?, Luc Bessons Thriller Nikita sowie die Hollywood-Blockbuster Batman und Pretty Woman Furore. In jedem Kinojahr lassen sich mit Leichtigkeit 20 bis 30 prägende Filme finden. Da wir in der Regel aber nur sechs pro Programm präsentieren wollen (pro Woche einen Film), wird sich die Programmation auf die cineastisch besonders bedeutsamen oder folgenreichen Titel konzentrieren. Ausnahmen bilden jene Filme, die kürzlich im Filmpodium zu sehen waren oder bereits für einen Zyklus im laufenden Jahr eingeplant sind.
Eine streng chronologische Reihung im Trippelschritt der Jahre passt unserer Meinung nach nicht zu unserer Zeit der Beschleunigung – und läuft sicher nicht nur unserer eigenen Ungeduld zuwider. Beim Jahr 1900 beginnend, wäre unsere Chronik nach zwei Jahren gerade mal beim Jahr 1916 angelangt. Wir haben uns deshalb entschieden, das sprichwörtliche «erste Jahrhundert des Kinos» nicht einmal im Schneckentempo, sondern zehnmal mit «Zehnmeilenstiefeln» zu durchqueren, indem wir jeweils in Dekadensprüngen vom laufenden Jahr ausgehen. 2011 starten wir mit den Einerjahrgängen 1911, 1921, 1931 etc., 2012 folgen dann die Zweierjahrgänge und so weiter. Mit Ausnahme der Stummfilmjahre bis 1929, in denen wir jeweils die Filme dreier Dekaden zusammenfassen, wird also jedem Jahr ein Programm gewidmet. Die Dekadensprünge haben dabei den Vorteil, dass einerseits für Abwechslung gesorgt ist und andererseits stets das – sich immer stärker ausdifferenzierende – ganze Kinojahrhundert im Blick bleibt.

Zum Auftakt die Stummfilmjahre 1911 und 1921…
Um das Prinzip der neuen Dauerreihe zum Auftakt etwas breiter zu veranschaulichen, blenden wir mit dem vorliegenden Programm nicht bloss in die Stummfilmjahre 1911 und 1921 zurück, sondern zusätzlich auch ins Jahr 1931 (den Pionierjahren 1895-1902 widmen wir uns im kommenden Januar). Bis 1911 hatte sich in Ländern wie Frankreich und Italien bereits eine florierende Industrie herausgebildet, die Krimis und Historienfilme produzierte und mit Firmen wie Pathé schon internationale Konglomerate aufwies. Pathé stellte nicht bloss Kameras, Projektoren und Filme her, sondern verfügte auch schon über Ableger in Rom, Madrid, Moskau, New York und Tokio und über 200 Kinos allein in Frankreich und in Belgien. Die Spanne von 1911 bis 1921 markiert auch die grossen Jahre des amerikanischen Pioniers David Wark Griffith. 1921 – im Jahr, in dem Chaplins The Kid, Sjöströms Der Fuhrmann des Todes und L'Herbiers El Dorado herauskamen – legt Griffith mit Orphans of the Storm seinen letzten Film vor, der Geschichte schreiben sollte. Um diese Fülle der jeweiligen Jahresproduktion anzudeuten, werden wir im Programmheft nicht bloss die Filme unserer Wahl erläutern, sondern stets auch rund 20 weitere wichtige Produktionen des betreffenden Jahres auflisten.

…und das Tonfilmjahr 1931
Mit dem Sprung ins Jahr 1931 gelangen wir schliesslich in eine zweite grosse Pionierzeit des Kinos: Der Tonfilm, 1928 im grossen Stile lanciert, erschliesst sich sein Territorium und steckt in Hollywood mit Dracula, Frankenstein und Dr. Jekyll and Mr. Hyde quasi innert Jahresfrist den «Claim» des Horrorfilms ab. Das Gleiche lässt sich für den amerikanischen Gangsterfilm sagen, der 1931 mit Little Caesar und The Public Enemy eine doppelte Initialzündung erlebt. In Frankreich kommen im gleichen Jahr Renoirs La chienne, Clairs Le million sowie die erste Pagnol-Verfilmung, Marius, heraus, an denen nicht zuletzt jener soziale Realismus auffällt, der auch in deutschen 31er-Filmen wie Kameradschaft, Berlin Alexanderplatz oder Emil und die Detektive noch blüht, bis ihm die Nazis den Garaus machen. Auffallend aber auch die Parallelen zu und zwischen den japanischen Meistern Naruse, Gosho und Ozu, die 1931 alle einen ihrer zahlreichen Filme aus dem Kleinbürgermilieu inszenieren und teilweise auch nach Tonfilmen nochmals zum Stummfilm zurückkehren. Um solche Momentaufnahmen aus der Entwicklungsgeschichte des Films in ihrem Kontext zu zeigen, werden Filmeinführungen und Ergänzungsvorträge unsere Dauerreihe begleiten. Auf 1001 vergnügliche Erhellungen aus 100 Jahren!
Andreas Furler, Corinne Siegrist-Oboussier