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Mike Leigh: Scharf beobachtete Normalität

Seit den frühen siebziger Jahren berichtet der britische Autorenfilmer Mike Leigh als sensibler Beobachter vom ganz alltäglichen Wahnsinn des kleinbürgerlichen Existenzkampfs. Dass seine Filme dabei ganz nah am Leben bleiben, verdankt sich nicht zuletzt einem Ensemble herausragender Schauspielerinnen und Schauspieler. Mike Leighs Filme sind unverwechselbar und doch schwierig auseinanderzuhalten: Sie verschmelzen zu einem grossen Panorama kleinbürgerlichen britischen Alltags. Die Geschichten, die Leigh erzählt, sind geradezu aussergewöhnlich gewöhnlich; er tischt kein dramatisches Abenteuer auf und verzichtet auf virtuose Kameratricks oder ausgefallene Montagen. Durch die Einfachheit der filmischen Mittel bewahrt er sich den direkten Blick auf das Wesentliche: seine Schauspieler. Ihnen gibt er den Raum, den sie benötigen, um ihre Figuren zum «ganz normalen» Leben zu erwecken.
Mike Leigh (*1943) wuchs in einem Arbeitervorort bei Manchester als Sohn eines Arztes auf. Bereits als Kind soll er Unmengen von britischen und amerikanischen Filmen konsumiert haben – doch vermisste er darin immer Figuren «wie du und ich». Mit 17 Jahren erhielt er ein Stipendium für die Royal Academy of Dramatic Arts in London. Neben Schauspiel studierte er Filmtechnik und Bühnenbild. Nach dem Abschluss arbeitete er zunächst beim Theater, doch das war ihm bald schon zu kurzlebig. Der Film blieb seine Leidenschaft, das Kino sein «natürlicher Lebensraum».

Kopfüber ins Ungewisse
Die Entstehung seiner Werke versteht Mike Leigh als «organischen Prozess», dafür ist er ebenso berühmt wie berüchtigt. Er beginnt ohne Drehbuch, ja noch nicht einmal mit einer Idee der Geschichte, doch hat er eine bestimmte Vorstellung der Stimmung, die den jeweiligen Film prägen soll. Mit jedem Schauspieler entwickelt er individuell über Monate hinweg einen Charakter: Improvisierend und recherchierend nähern sie sich gemeinsam der Filmfigur – erst, wenn diese mit einer eigentlichen Biografie ausgestattet ist, wenn die Schauspieler in ihrer Figur leben, wohnen und denken, werden die einzelnen Situationen geformt und präzisiert. Sobald diese Arbeit abgeschlossen ist, schreibt Leigh eine knappe, dialogfreie Drehfassung, um die Struktur festzuhalten. «Mike startet im Chaos und landet am Ende bei einer strukturierten Form», brachte die Schauspielerin Katrin Cartlidge Leighs Arbeitsweise auf den Punkt. Mit Erfolg setzte er dieses risikoreiche Vorgehen – kopfüber ins Ungewisse – 1971 erstmals ein für den Film Bleak Moments. Prompt wurde er in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Der legendäre amerikanische Filmkritiker Roger Ebert beschrieb dieses Spielfilmdebüt euphorisch als neue Art von Film, der mit fast schon beängstigender Intensität Menschen und ihr Verhalten beobachte.
Danach erging es dem talentierten Autorenfilmer allerdings nicht anders als anderen britischen Filmemachern jener Zeit: Der desolate Zustand der Filmindustrie verunmöglichte ein unabhängiges Schaffen. So machte Leigh Fernsehfilme für die BBC und realisierte Theaterproduktionen, bis in den achtziger Jahren der TV-Sender Channel 4 gegründet wurde, der durch sein Filmförderungsprogramm wesentlich zur Geburt des «New British Cinema» beitrug. Leigh bekam die Möglichkeit, den Fernsehfilm Meantime (1984) zu drehen, der später auch im Kino Karriere machte, und mit High Hopes (1988) nach 17 Jahren endlich wieder auf 35-mm-Film fürs Kino zu arbeiten. Anfang der neunziger Jahre schaffte Leigh mit Naked den internationalen Durchbruch: 1991 wurde er in Cannes mit dem Regiepreis geehrt; drei Jahre später erhielt er für Secrets & Lies die Goldene Palme.

Forschungsfeld Familie
Seit seinen Anfängen berichtet Leigh von den Fronten des alltäglichen Überlebenskampfs. Dabei geht es ihm weniger um die Geschichten als um das Verhalten seiner Figuren und ihr Verhältnis zueinander. Sein liebstes Forschungsfeld ist die Familie: Einmal stehen die arbeitslosen oder frustrierten Eltern mit ihren fast erwachsenen, aber perspektivlosen Kindern im Zentrum (Meantime und All or Nothing, 2002); ein andermal ist es eine überforderte alleinerziehende Fabrikarbeiterin, die mit ihrer missmutigen Tochter ständig im Streit liegt und unversehens mit ihrer bisher verheimlichten unehelichen Tochter konfrontiert wird (Secrets & Lies). Auch wenn er wie in Vera Drake in einem historischen Setting, dem London der fünfziger Jahre, arbeitet, geht es Leigh immer um die Nahaufnahme: Die «Engelmacherin» führt mit ihrer Familie ein einfaches, aber zufriedenes Leben, bis plötzlich ihre wahre «Berufung» ans Licht kommt.
Die Erwartungen, die Leighs Heldinnen und Helden an das Leben haben, werden oft enttäuscht. Gleichwohl geben sie nicht auf, sie trinken ihre Tasse Tee und versuchen weiterhin, irgendwie über die Runden zu kommen; zuweilen verzweifelt einer an der Welt und wütet gegen das Leben und die Menschen im Thatcher-England, wie etwa Johnny, der eloquente Gossenphilosoph und Antiheld aus Naked. Damit solche Gesellschaftskritik nicht niederschmetternd wirkt, verpackt Leigh sie in eine liebevoll komische Form, die sich aus der Genauigkeit bei der Wiedergabe des Alltäglichen ergibt. So kommt jede Marotte, jede irrwitzige Anwandlung und jedes bizarre Accessoire fast überdeutlich zum Vorschein, vom Brillengestell, das mit Klebstreifen provisorisch geflickt wurde, in Meantime bis zu den nervösen Ticks einer Post-Punkerin in Career Girls (1997). In Life Is Sweet (1990) beschmiert sich eine Bulimikerin beim Liebesspiel mit Schokoladenaufstrich, und ein Möchtegern-Gourmetkoch demoliert im Suff die Einrichtung seines neu eröffneten Restaurants «The Regret Rien» aus Enttäuschung darüber, dass die Kundschaft ausbleibt.
Trotz solcher Überhöhungen erscheinen Leighs Figuren nie als blosse Karikaturen; sie sind erschreckend authentisch, was nicht zuletzt der schauspielerischen Leistung seines Stammensembles zu verdanken ist. Timothy Spall etwa triumphiert als erschöpfter, massiger Underdog in All or Nothing gleichermassen wie als divenhaft affektierter Mikado in Topsy-Turvy (1999). Lesley Manville überzeugt als verbittert keifende Ehefrau in All or Nothing und als labile Hysterikerin in Leighs neuem Film Another Year; und Sally Hawkins nimmt man den arroganten, aber auch sehr einsamen Teenager in All or Nothing ebenso ab wie das notorisch heitere Energiebündel in Happy-Go-Lucky (2008).
Neuerdings würde sich Leigh gern einem ganz anderen Thema zuwenden. Seinem Filmprojekt über den britischen Maler William Turner blieb allerdings bis heute die finanzielle Unterstützung versagt. Bis auf Weiteres wird der Regisseur also seinem angestammten Terrain, dem häuslichen Drama, treu bleiben. So schlecht sei das gar nicht, meint Leigh dazu. Er liebe seine Filme, sie seien Teil seiner Familie. Von Zeit zu Zeit frage er sich sogar, was aus seinen Protagonisten geworden sei, nachdem die letzte Klappe gefallen ist.
Tanja Hanhart