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Abbas Kiarostami: Dem Leben einfach zusehen

Mit seinen scheinbar schlichten, aber hintergründigen Alltagsgeschichten hat Abbas Kiarostami (*1940) das iranische Filmschaffen in den späteren achtziger Jahren ins internationale Bewusstsein gebracht. Seine Filme haben immer wieder auch das Erzählen von Geschichten und den Prozess des Filmemachens selbst zum Thema; sie hinterfragen vermeintliche Gewissheiten und verhandeln so ganz unangestrengt existenzielle Fragen. Und das Leben geht weiter, so heisst ein Film, den Abbas Kiarostami im vom Erdbeben verwüsteten Nordwesten des Iran gedreht hat. Dieser Titel gilt für jede einzelne seiner Einstellungen, könnte über all seinen Filmen stehen.
Und das Leben geht weiter – in diesem 1992 gedrehten Film fährt ein Regisseur und Alter Ego des iranischen Regisseurs durch das Katastrophengebiet, auf der Suche nach den beiden Kinderdarstellern seines vorherigen Films Wo ist das Haus des Freundes?. Er begegnet einem Liebespaar, das unmittelbar nach dem Erdbeben geheiratet und sich schon in einem halbwegs bewohnbaren Haus eingerichtet hat. Er trifft auf Menschen, die aufgeregt versuchen, eine Fernsehantenne einzurichten, um Fussball zu schauen. Das Leben geht weiter in Kiarostamis Kino, sogar da, wo es eigentlich an seinem Ende angelangt scheint: In Der Wind wird uns tragen verschlägt es einen Fernsehjournalisten in ein kurdisches Bergdorf. Er wartet auf das Ableben einer alten Frau, weil er eine seltene Trauerzeremonie festhalten will. Die Sterbende wird man nie zu Gesicht bekommen, doch ihr Zustand produziert immer neue Zeichen des Lebens. Kommende und gehende Verwandte, ein im Hof wachender, ebenfalls schon recht betagter Sohn, Nachbarn, die Suppe bringen. Immer wieder führt das klingelnde Handy den Fremden auf einen nahe gelegenen Hügel. Hier oben ist der Empfang besser, und hier liegt zufällig auch der Friedhof des Dorfes. Ein Totengräber, der nicht zu sehen ist, gräbt ein Loch und singt dabei ein Liebeslied. Der Wind trägt die heitere Melodie über die Gräber, und alles verbindet sich zu einem einzigen absurden Augenblick: Vergänglichkeit und Lebenslust, längst Verstorbene und zukünftige Tote, der Verliebte im Loch und der Telefonierende oben auf der Erde, das wartende Fernsehteam und die Alte, die partout nicht sterben will und auf deren Seite wir uns längst geschlagen haben.

Ein Kino der Freiheit und Offenheit
In Abbas Kiarostamis Kino der sanften Dialektik wird jede Bewegung von der nächsten aufgehoben, jedes Ereignis ins Verhältnis zu einem anderen gesetzt. In seinen Bildern, die manchmal nur aus Licht, Wind und Landschaft zu bestehen scheinen, ist nichts endgültig, alles bleibt in der Schwebe. Nie werden wir erfahren, weshalb sich der Mann, der in Der Geschmack der Kirsche über staubige Strassen durch das hügelige Umland von Teheran fährt, umbringen will. Wir sehen ihn in seinem Auto, in das alte und junge Menschen steigen und mit ihm über den Sinn und die Schönheit des Lebens streiten, aber auch über Jugenderinnerungen, das Wetter und Gott und die Welt. Offen bleibt auch, ob der junge Hossein und seine Angebetete Tahereh, die sich in Durch den Olivenhain endlos über die Liebe, Haushaltsfragen, Männer- und Frauenrollen austauschen, am Ende wirklich zusammenkommen.
Mit ihren ausführlichen, immer eigensinnigen und manchmal aberwitzigen Gesprächen und Disputen erzeugen Kiarostamis Filme einen fliessenden Rhythmus der Rede und der Erzählung. Es ist ein Rhythmus, der die unterschiedlichsten Auffassungen, An- und Weltsichten seiner Figuren mitnimmt, ihnen ihre Eigenwertigkeit lässt und sie nie gegeneinander ausspielt. Die grossen Themen und existenziellen Fragen, die dabei verhandelt werden, scheinen immer aus der Widersprüchlichkeit des Lebens selbst zu kommen.
In dieser Offenheit, die sich eben auch in der filmischen Form niederschlägt, von ihr befördert und gespiegelt wird, liegt die grosse Freiheit von Kiarostamis Kino. Es ist ein Kino, das in einem totalitären Land, inmitten von staatlich verordneten orthodoxen religiösen Werten, den Diskurs, den Disput, die geradezu sokratische Infragestellung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Der totalitären Gedankenenge setzt dieses Kino keine Botschaften entgegen, vielmehr betreibt es die Auflösung vermeintlicher Gewissheiten.

Durchlässige Bilder
Kiarostamis freiheitliche Haltung durchdringt sein Kino bis in die Details des Bildes und bis ins grosse Fundament seiner Entstehung. Denn Offenheit bedeutet bei ihm stets auch die Durchlässigkeit des Bildes und des filmischen Rahmens. Seine bevorzugte Einstellung ist die mit starrer Kamera aufgenommene Totale. Und doch ist diese Einstellung alles andere als starr. Sie gerät in Bewegung durch eine Ziegenherde, die unvermittelt durchs Bild läuft, durch Stimmen, Geräusche, Vogelgezwitscher, die aus dem Off in die Szenerie dringen, durch Menschen, die im Hintergrund ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Ein bevorzugter Schauplatz vieler Kiarostami-Filme ist das Innere eines Wagens. Nebenbei wird die Landschaft, werden Dörfer und Passanten zu einem Film im Film, der an der Autoscheibe vorbeizieht. Auf diese Weise erlebt man in Ten das grosse Thema der Geschlechterfragen in Iran auch im Kleinen, wenn etwa die Kamera eine Frau beobachtet, die unter ihrem schweren schwarzen Schleier im heissen Teheraner Sommer fast vor Hitze vergeht.
Die Grenzen des Mediums Kino erkundet Kiarostami – auch Dichter, Fotograf und Maler – in eher experimentellen späteren Arbeiten wie etwa der Naturmeditation Five Dedicated to Ozu oder Shirin, der sich ganz auf aufmerksam schauende Gesichter konzentriert. Gleichzeitig offenbaren sich seine Filme immer wieder als Fiktion, die gerade im Entstehen ist. Die Grenzen zwischen Kino und der Welt, in der es entsteht, sind fliessend und werden manchmal bewusst verwischt. Etwa in Durch den Olivenhain, der die Geschichte des Paares wieder aufgreift, das in den Erdbebentrümmern von Und das Leben geht weiter geheiratet hat. Er zeigt die beiden während der Vorbereitungen und während der Dreharbeiten ihrer kleinen Szene im vorherigen Film. In den Pausen, während die Filmkassetten gewechselt werden, tritt zutage, dass die Gefühle des Jungen durchaus echt sind: Ein Laiendarsteller spielt einen Laiendarsteller, der seine Liebe spielt.
Seine Vorliebe für das von ihm zu völliger Natürlichkeit gebrachte Spiel von Laiendarstellern mag damit zusammenhängen, dass der Autodidakt Abbas Kiarostami zu Beginn seiner Laufbahn fast ausschliesslich mit Kindern arbeitete. 1970 begann er – nach mehreren Jahren in der Werbebranche – die Filmabteilung des Teheraner «Instituts für intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen» aufzubauen. Hier entstanden seine Kurzfilme, die ihre aus der Perspektive von Kindern erlebten Dramen bereits aus alltäglichen Situationen und den Lebensumständen schöpften. Brot und Gasse zum Beispiel, über einen Jungen, der mit dem Brot, das er für die Familie gekauft hat, versucht, an einem Hund vorbeizukommen, der die enge Gasse versperrt. Dieser Blick auf scheinbar banale Situationen setzt sich später auch fort in seinem Spielfilm Wo ist das Haus des Freundes? über einen Schuljungen, der seinem Klassenkameraden unbedingt das vergessene Hausaufgabenheft bringen will. Der Film handelt auch von einer engstirnigen Erwachsenenwelt, die mitnichten die Solidarität des Jungen, geschweige denn die Schönheit seiner Geste begreift.
Sind Abbas Kiarostamis Filme soziale Parabeln, philosophische Metaphern, Geschichten aus dem persischen Reich der Rede, Alltagseinblicke? Sicher ist, und auch das gehört zur Freiheit dieses Kinos, dass es uns keine Lesart aufdrängt. Auf unaufgeregte, gelassene, ja oft sogar heitere Weise erörtert es existenzielle Fragen mit der Beiläufigkeit einer Taxifahrt, eines Brotkaufs, eines Spazierganges durch einen Olivenhain. Abbas Kiarostami macht grosses Kino, das uns seine Grösse nicht aufdrängt.
Anke Leweke

Anke Leweke ist freie Filmjournalistin in Berlin. Sie schreibt für «Die Zeit» und «Die Tageszeitung», arbeitet für Deutschlandradio Kultur und radioeins (RBB) und für den WDR. Seit 2001 ist sie im Auswahlgremium der Berlinale und zudem zuständig für das iranische Kino. Jedes Jahr fährt sie nach Teheran, um Filme für die Berlinale vorauszuwählen.