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Jan Troell & Bo Widerberg: Zeitenmaler, lyrisch und expressiv

Auch das schwedische Kino erlebte in den sechziger Jahren seine Nouvelle Vague. Ihre wichtigsten Vertreter waren Bo Widerberg und Jan Troell, die aber beide nur mit einzelnen Filmen wie Elvira Madigan und Die Auswanderer internationale Erfolge feiern konnten. Sie teilten nebst gemeinsamen Anfängen ihre Vorliebe für sozialgeschichtliche Stoffe und waren doch ganz unterschiedliche Temperamente: Wir erinnern an den extrovertierten Impressionisten Widerberg und freuen uns auf den Besuch des lyrischen Epikers Troell. Der Zustand der Filmproduktion in Schweden zu Beginn der sechziger Jahre war – mit Ausnahme des Phänomens Bergman – deplorabel. Etwas musste geschehen, und es geschah. Es war wesentlich den Bemühungen des Unternehmers Harry Schein zu verdanken, dass der schwedische Reichstag die sogenannte Filmreform verabschiedete, die am 1. Juli 1963 in Kraft trat. Zentral war die Abschaffung der Vergnügungssteuer, die durch eine Abgabe von zehn Prozent der Einnahmen ersetzt wurde, die die Kinos an eine neugeschaffene Institution abzuführen hatten: das Schwedische Filminstitut, bei dem alle filmpolitischen und -produktionellen Aktivitäten zusammenliefen.
Die Schaffung der neuen Strukturen erleichterte den Generationenwechsel, der sich nun vollzog. Bereits 1962 war der Kinoerstling von Vilgot Sjöman herausgekommen, Älskarinnan (Die Geliebte). 1963 folgte Bo Widerberg gleich mit zwei Titeln: Barnvagnen (Der Kinderwagen) sowie Kvarteret Korpen (Das Rabenviertel), den Bergman später einmal ein «absolut makelloses Meisterwerk» nannte. 1930 in Malmö geboren, hatte sich Bo Widerberg das filmische Rüstzeug beim Fernsehen erworben, wo er mit einem Kameramann zusammenkam, der ähnliche Ambitionen hatte, dem 1931 ebenfalls in Malmö geborenen Jan Troell. Sowohl bei Barnvagnen wie beim Kurzspielfilm Pojken och draken (Der Bub und der Drachen, 1962), ihrem gemeinsamen Erstling, hatte Troell die Kamera geführt, wie denn der hervorragende Kameramann seine eigenen Filme bis heute stets selber fotografiert. Malmö, die Stadt ihrer Jugend, hat bei beiden immer wieder Eingang in ihre Filme gefunden, besonders bei Widerberg, der mit Kvarteret Korpen dem Quartier, in dem er aufgewachsen war, ein Denkmal setzte.
Widerberg war in den fünfziger Jahren als Verfasser von einem halben Dutzend Romanen und Sammlungen von Kurzgeschichten hervorgetreten. Daneben hatte er sich grundsätzlich mit Filmfragen befasst – in einer Zeit, die, wie er sagte, nicht mehr «vertikale Filme», wie diejenigen Bergmans, sondern sozial engagierte «horizontale» brauche. Zu lesen war dies im 1962 erschienenen Essayband «Vision im schwedischen Film», der filmkünstlerisches Credo und Programm zugleich war. Der schwedische Film solle «Wirklichkeitsprobleme, nicht Filmprobleme» zeigen, hiess es darin in durchaus zeittypischem Duktus, «der Dialog nicht an geschriebene, sondern an gesprochene Sprache» erinnern, in einer «Wirklichkeit, die nicht konstruiert, sondern studiert» wurde, in der das «Individuum in seinem Verhältnis zum Kollektiv gezeigt wird, die Milieus voller Leben, Düfte und Farben». Letzteres leistete am vollendetsten gewiss Ådalen 31 (1969), die weniger um historische als um eine Genauigkeit der Milieuschilderung und der seelischen Befindlichkeit ihrer Protagonisten bemühte packende Darstellung eines blutig niedergeschlagenen Streiks von Fabrikarbeitern im nordschwedischen Ådal im Jahr 1931. Als Bo Widerberg 1997 an Magenkrebs starb, hinterliess er ein beachtliches Werk, das aber zweifellos noch nicht an sein Ende gekommen war.
Auch Jan Troell, der grosse Epiker, hat in seinen weit ausgreifenden Stoffen immer wieder Momente von dramatischer Spannung inszeniert. Dennoch ist er wohl noch stärker der Meister des Intimistischen. Unvergleichlich, zu welchen schauspielerischen Sternstunden er Liv Ullmann in Utvandrarna (Die Auswanderer, 1971) und Nybyggarna (Die Siedler, 1972), der fein ziselierten monumentalen Auswanderer-Saga nach Vilhelm Moberg, führte; die grosse Bergman-Darstellerin hat hier ein geradezu herzergreifendes Mass an Innigkeit in der Durchdringung einer Figur erreicht. Höchst beeindruckend bereits der Erstling, Här har du ditt liv (Hier hast du dein Leben, 1966), die knapp dreistündige Adaptation von Eyvind Johnsons in den Jahren des Ersten Weltkriegs angesiedelter Romantetralogie. Ole dole doff (Raus bist du, 1968), mit dem Goldenen Bären der Filmfestspiele Berlin gewürdigt, war die intensive Evokation einer albtraumhaften Lehrerexistenz. Die achtziger Jahre waren zu einem grossen Teil Troells Projekt einer umfassenden Bestandesaufnahme des mentalen Zustands seiner Heimat gewidmet, die dann im dreistündigen Dokumentarfilm Sagolandet (Das Märchenland, 1988) resultierte, dem Befund von Schweden als einem Land ohne Träume und Utopien. Jan Troell betrachtet ihn als seinen wichtigsten Film.
Christoph Egger

Christoph Egger war bis 2009 Filmredaktor der NZZ. Er hat u. a. Nordistik studiert und ist einer der besten deutschsprachigen Kenner des schwedischen Kinos.