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Filmische Utopien: Es wär' einmal

Utopien sind Wunschfantasien über bessere Gesellschaftsformen ferner Zeiten oder Länder. Doch gleich, ob sie in den Weiten des Weltraums, einer erträumten Vergangenheit oder Zukunft spielen: Immer spiegeln sie auch die Ängste ihrer Zeit, und nicht selten kommen sie deshalb als Albträume daher. Unsere Reihe versucht die Fülle der filmischen Utopien mit Beispielen vom klassischen Science-Fiction- über den Dokumentarfilm bis zum experimentellen Spielfilm zu fassen. Seit genau fünfzig Jahren, so war kürzlich zu lesen, suchen Astronomen nach ausserirdischer Intelligenz. Zwar wird diese aufwendige Suche vorab von Naturwissenschaftlern vorangetrieben. Das öffentliche Interesse an dieser Disziplin dürfte jedoch nicht zuletzt in der Neugierde auf die soziale Seite anderer Lebensformen begründet sein.
Kein Wunder also, dass das Kino sein Trickinventar von Beginn weg begeistert für Verkündigung, Erschaffung und Entdeckung anderer Welten eingesetzt hat: Vor über hundert Jahren schickte Georges Méliès erstmals ein paar verrückte Wissenschaftler auf eine Voyage dans la lune, und seither reisst der Strom Richtung «outer space» nicht ab. Abgesandte von der Erde treffen auf intergalaktische Zivilisationen, oder aber Erdlinge werden von Ausserirdischen heimgesucht, gekidnappt oder einverleibt: It Came from Outer Space und Invasion of the Body Snatchers. Das nicht minder häufige Gegenszenario sind «close encounters» mit eingeschwebten Intelligenzen, die heilbringende Botschaften über die Segnungen höherer Zivilisationen verkünden – von The Day the Earth Stood Still bis 2001 – A Space Odyssey. Der Vergleich mit den extraterrestrischen Fremdlingen lässt Reflexionen über die eigene Gesellschaftsform zu: Was wäre, wenn?
Angesiedelt irgendwo im Raum, fern menschlicher Zivilisation, erfüllen die Allbewohner eine Grundvoraussetzung für die Utopie. Seit Thomas Morus 1516 mit seinem Roman «Utopia» – mit Rückgriff auf bestehende literarische Vorbilder – den Begriff prägte, leben die Utopier auf einer Insel. Nur in der Isolation, so scheint es, kann sich eine utopische Gesellschaftsform in der gewünschten Radikalität überhaupt entwickeln. Utopische Romane sind keine Wegbeschreibungen zur Verbesserung einer Gesellschaft, sondern vielmehr detaillierte Schilderungen von Organisationsform und Funktionsweise eines behauptetermassen existierenden idealen Staatswesens – formuliert fast immer aus der Sicht eines Berichterstatters, den es an die Gestade des abgeschiedenen Idealstaats verschlagen hat. Da dort der gesellschaftliche Verbesserungsprozess längst abgeschlossen ist und Ordnung herrscht, sind Utopien ihrer Natur gemäss statisch und damit für das dynamische Erzählmedium Film wenig geeignet: Erzählungen brauchen Bewegung, sie leben von Konflikten, von sich widersprechenden individuellen und kollektiven Interessen und Träumen. Filmisch gesehen, ist das Paradies zum Gähnen.

Wunschlos glücklich?
Weit häufiger als Utopien sind im Kino daher die Antiutopien oder Dystopien. Doch das vermeintliche Gegensatzpaar ist kein wirkliches: Oft steckt ja schon im Kern einer Utopie ihr Gegenteil. Die kollektive Erfüllung des Traums einer besseren Gesellschaft hat meist nur so lange Bestand, bis sie einem rebellischen Individuum nicht mehr gefällt. In einer utopischen Welt von deckungsgleichen Bedürfnissen und Wünschen, die sich meist auch in einheitlicher Kleidung äussern, hat Abweichendes keinen Platz. Individualität ist nicht vorgesehen. Oft beansprucht eine Führerfigur für sich, den Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen, etwa der reiche Exzentriker Forbek in Alain Resnais’ La vie est un roman. Als Zeremonienmeister nimmt er an seinen Freunden ein Glücksexperiment vor, das alle zur Harmonie führen und die Wunden des Ersten Weltkrieges heilen soll: Er lässt Fenster und Türen zumauern, steckt seine Jüngerrunde in stilvolle, aber uniforme Seidenplissee-Gewänder und verabreicht ihnen einen Trunk des Vergessens, um sie als «reine» Babys wiederauferstehen zu lassen. Nur die schöne Livia schüttet den Drink aus: «Ich will Feuer und Eis. Dein lauwarmes Glück kann mir gestohlen bleiben.» In Lost Horizon behauptet der Hohe Lama, Antworten für die gesamte Menschheit parat zu haben. Dem hitzigen jungen Engländer wird es jedoch im harmonischen, aber völlig isolierten Tibet-Tal bald langweilig; er möchte sehnlichst zurück in die unruhige, vom Weltkrieg bedrohte Zivilisation: ein für seine Gefährten unbegreiflicher Wunsch, der ihn zum Aussenseiter macht. Der Individualist wird zum Rebellen und damit zum potenziellen Helden. So ist sogar in den wenigen positiven Kinoutopien das Totalitäre einer «vollkommenen» Welt latent spürbar.
Den weitaus meisten «utopischen» Filmen geht diese leise Ambivalenz indes völlig ab: Es sind eindeutig negative Utopien. Räumlich oder auch nur zeitlich losgelöst vom Hier und Jetzt, spiegeln sich in ihnen die Bedrohungen und Sorgen ihrer Entstehungszeit, 1936 in Things to Come nach einer Vorlage von H. G. Wells etwa die Kriegsängste. Orson Welles’ legendäres Radiohörspiel «The War of the Worlds» (nach einem Roman desselben Autors) löste 1941 bei der Ausstrahlung eine Massenpanik aus. Um Ähnliches zu verhindern, wurde Peter Watkins’ Nach-Nuklearkriegs-Drama The War Game (1965) von der produzierenden BBC gar nicht erst ausgestrahlt. Soylent Green (Richard Fleischer, USA 1973) thematisiert auf krasse Weise die immer weiter auseinanderklaffende Zweiklassengesellschaft, die ausbeuterische Kanalisierung menschlicher Aggressivität steht im Zentrum von Rollerball (Norman Jewison, USA 1975) und La decima vittima (Elio Petri, Italien 1965), um die Angst vor sich verselbstständigenden intelligenten Robotern dreht sich I, Robot (Alex Proyas, USA 2004).

Zurück auf «Start»
In den letzten Jahrhunderten wurde immer wieder versucht, die Welt mittels Sozialexperimenten grundlegend zu verändern oder doch wenigstens zu verbessern. Im Kleinen hat dies etwa Gerrard Winstanley versucht, ein Kleiderhändler aus London, den der Bürgerkrieg im England des 17. Jahrhunderts ruiniert hatte. Mit Gleichgesinnten errichtete er in Surrey eine Siedlung, in der Arbeit und Essen geteilt werden sollten: Land galt ihnen als Gemeinbesitz aller. Zwar sollte Winstanley scheitern, wie Kevin Brownlow und Andrew Mollo in ihrem genau recherchierten gleichnamigen Film zeigen – vielleicht, weil seine Gemeinschaft ein Teil der sie umgebenden Welt blieb –, doch seine Ideen führten zur Gründung weiterer ähnlicher Siedlungen. Andere Filme berichten von utopischen Gründungen in Übersee oder von gesellschaftlichen Umwälzungen: Paolo und Vittorio Taviani erzählen in Allonsanfàn von der politischen Sekte der «Erhabenen Brüder», die 1816 im Italien der Restauration versuchten, die Revolution aus Idealismus neu zu beleben. Auch die russische Revolution zielte auf eine gerechtere Welt, was unter anderem an der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft scheitern sollte. Sergej Eisenstein, der filmische Vordenker und Verklärer der russischen Revolution, hat dieser Aufbruchstimmung mit Die Generallinie (später Das Alte und das Neue genannt) ein Denkmal gesetzt.
Dass die genannten Filme der Gebrüder Taviani und von Brownlow/Mollo in den frühen siebziger Jahren entstanden sind, mag mit dem Nachdenken über wünschbare Gesellschaftsformen zu tun haben, welches die 68er Bewegung ausgelöst hat. Diese Stimmung findet ihren direkten Niederschlag im verspielten Pseudodokumentarfilm L’an 01 von Jacques Doillon (1973): «On arrête tout!», lautet die Devise, und man nutzt die frei gewordene Zeit, um darüber zu diskutieren, wie die Gesellschaft aussehen könnte, wenn man wieder auf «Start» geht – was wäre, wenn?
Für diese Überlegungen ist ein Flug zum Mond keine zwingende Voraussetzung.
Corinne Siegrist-Oboussier