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Jacques Audiard: Am eigenen Schopf aus dem Sumpf

Seit dem überragenden Gefängnisdrama Un prophète wird der französische Regisseur Jacques Audiard in einem Atemzug mit Grössen wie Clouzot und Melville genannt. Doch schon seine vier vorangehenden Filme, darunter Sur mes lèvres und De battre mon cœur s’est arrêté, waren packende Grenzgänge zwischen Genre- und Autorenkino. Unsere Hommage geht zurück bis zum Moment, in dem Audiard an der Seite seines berühmten Vaters Michel vierhändig zu schreiben begann. Berühmte Eltern können für ihre Kinder bekanntlich zur Hypothek werden: Wie je so gross werden wie sie? Wie wenigstens aus ihrem Schatten heraustreten, wenn der Schatten so weit reicht wie jener Michel Audiards? 130 Titel aus fünf Jahrzehnten umfasst das Werkverzeichnis des 1920 geborenen Drehbuchautors und gelegentlichen Regisseurs: zwei Dutzend Filme mit Jean Gabin, zwanzig Belmondo-Vehikel, ein Dutzend Krimis für Henri Verneuil, schliesslich Komödien mit Titeln wie Le guignolo oder Comment réussir … quand on est con et pleurnichard. Bis in die achtziger Jahre war Audiard in Frankreich ein Liebling der Massen, berühmt für seinen beissenden Humor, gefragt für seine rotzfrechen Dialoge und regelmässig geprügelt von der Pariser Filmkritik als rechtslastiger Reaktionär.
Was aber war dieses heilige Monster des populären Kinos seinem 1952 geborenen Sohn Jacques? Aus dessen Filmen zu schliessen: ein Alptraum, denn da wimmelt es von übermächtigen, vulgären, autoritären Vaterfiguren. Doch nichts von alledem findet sich in Audiards Interviewauskünften über seinen leibhaftigen Vater und das Elternhaus in Dourdan, das er als eine Welt der Kultur, des Humors und der geistreichen Gespräche mit lebenslustigen Berühmtheiten über Gott und die Welt beschreibt. Nur eines war in diesem Hause Tabu: den Vater einen Künstler zu nennen.

Schreibtischjahre
Mit dem Literaturstudium an der Sorbonne und dem Berufsziel Lehrer schien Audiard junior vorübergehend zwar auf schöngeistige Distanz zum Senior gehen zu wollen. Schon 1974 aber schrieb er erstmals an einer Komödie des Vaters mit (Bon baisers …, à lundi), und in den Semesterferien jobbte er mehrmals als Schnittassistent. Das Studium gab er darüber bald auf, und mit dem Belmondo-Krimi Le professionnel (Georges Lautner, 1981) und der Roman-Adaptation Mortelle randonnée (Claude Miller, 1983) stieg er als Co-Autor des Vaters vollends ins Drehbuchgeschäft ein.
Die Arbeit an Millers Film war für Jacques Audiard auch die erste praktische Erfahrung mit einem Kino jenseits des väterlichen Universums, wie er es zur Studienzeit in den Pariser Repertoiresälen lieben gelernt hatte: junges Autorenkino am Puls der Zeit, weniger geschliffen als jenes der Väter, dafür auch weniger abgegriffen, mehr der Wahrhaftigkeit als der Wirkung verpflichtet. Als der Tod des Vaters den Jungautor 1985 endgültig zur Selbstständigkeit zwang, arbeitete er deshalb vorzugsweise mit jungen Talenten wie Josiane Balasko (Sac de nœuds, 1985), Edouard Niermans (Poussière d’ange, 1987) oder Jérôme Boivin (Baxter, 1989). Auffällig an dieser fast zehn Jahre umfassenden Szenaristenzeit ist allerdings, dass sich Audiards Ringen um eine eigene Handschrift fast ausschliesslich auf dem Gebiet des Thrillers und der Komödie abspielte, dem Territorium seines Vaters. Erzählerische Raffinesse war und ist ihm bis heute wichtig, und das Genrekino mit seinen Konventionen bleibt sein bevorzugtes Mittel, um das grosse Publikum abzuholen – mag er es dann auch in Zonen jenseits der bekannten Spielregeln lotsen.

Unbeschriebene Blätter
Doch wovon handeln ganz konkret die fünf Filme, die Audiard seit 1994 als Regisseur vorgelegt hat? In erster Linie von jungen Männern (einmal von einer Frau), die sich als unbeschriebene Blätter in prekäre Situationen manövrieren, von ihrer Umwelt und den besagten Vaterfiguren drangsaliert werden und die um ihre Existenz, ja ihr Leben kämpfen müssen: ein junger Kleinkrimineller in einem mörderischen Gefängnis (Un prophète, 2009), ein Möchtegernpianist unter Pariser Immobilienhaien (De battre mon cœur s’est arrêté, 2005), ein Ex-Sträfling in der Bürowelt und eine Büromaus in der Unterwelt (Sur mes lèvres, 2001), ein Hochstapler unter Résistance-Helden (Un héros très discret, 1996), ein tumber Jüngling unter der Fuchtel eines alten Erzgauners (Regarde les hommes tomber, 1994). Sie alle entwickeln in der Not erheblichen Überlebenswillen und beachtliche Cleverness. Vor allem aber kristallisieren sich ihre anfangs noch ungeklärten Identitäten heraus.
Entscheidend ist dabei, dass uns Audiard die Innenwelt seiner «sehr diskreten Helden» weitgehend vorenthält und sie primär über ihre Reaktionen auf ihre unwirtliche Umwelt und ihre unwirschen bis brandgefährlichen Gegenspieler definiert. Dabei wirken die Helden bisweilen wie Versuchskaninchen in einer behavioristischen Trigger-Response-Anordnung: Nur logisch, dass sie sich nicht selbst reflektieren und moralische Bedenken gar nicht erst aufkommen lassen. In ihrer Bedrängnis schrumpft ihnen die Welt zum Tunnel, und indem Audiard ihren Tunnelblick reproduziert, erzeugt er eine Klaustrophobie von enormer filmischer Dynamik. Die Atmosphäre ist explosiv, das Schicksal der Figuren auf Messers Schneide, das Milieu – stets ganz präzis recherchiert – in sprechenden Details allgegenwärtig: hier die Kaffeebecher, welche die Arbeitskollegen achtlos auf dem Tisch der Hilfskraft parkieren, dort die Zellenmöblierung, die den Werdegang des Häftlings spiegelt … Meist scheint es schier aussichtslos, dass Audiards Figuren ihrer Gefangenschaft im Milieu und ihrer Befangenheit in sich selbst entkommen.

Eine gewisse Freiheit
Doch Audiards anthropologischer Pessimismus ist nicht bodenlos: Obschon seine Figuren nach strenger Logik auf verlorenem Posten kämpfen, gönnt er ihnen wundersame Rettungen, und auch ihre Integrität bleibt auf verquere Weise gewahrt: Der Häftling wird zwar zum Mörder, doch niemals zum Monstrum, und der Möchtegernpianist scheitert zwar am Berufstraum, kann aber das korrumpierende Umfeld der Pariser Immobilien-Mafia hinter sich lassen.
Der amerikanische Kritikerpapst David Thompson nannte diesen Hang zum glücklichen oder zumindest offenen Ende kürzlich Audiards Gefälligkeits-Handicap und meinte, dass sich dieser Regisseur auf dem Höhepunkt seiner Kunst entscheiden sollte, wie bequem er es seinem Publikum machen wolle. Doch Audiard hat sich längst entschieden. Er verzeiht seinen Figuren jeden Fehltritt, solange sie sich selbst nicht aufgeben, und als wohlwollender Deus ex machina sorgt er bisweilen dafür, dass sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Den Zwangslagen entkommt ohnehin keiner für immer, doch aus dem beharrlichen Ringen damit erwächst unversehens eine ungeahnte Souveränität. Das aber ist schon ein rechtes Stück Freiheit.
Mit Un prophète hat sich schliesslich auch Audiard selbst ein erhebliches Stück Freiheit erkämpft. Nach wichtigen nationalen Preisen für seine zwei ersten Regiearbeiten und internationalen Studiokino-Erfolgen mit den beiden nachfolgenden wurde dieser Film seit seiner Premiere in Cannes 2009 weltweit als Ereignis gefeiert und mit Preisen überhäuft. Er wolle sich, so die Reaktion des 57-jährigen Regisseurs, nun endlich von der langwierigen Stoffentwicklung befreien und Drehbücher anderer Autoren verfilmen, damit nicht jeder Film zu einem drei- bis vierjährigen Monsterprojekt anschwelle, das ihn und seine Familie zu verschlingen drohe (Audiard ist mit der Regisseurin Marion Vernoux verheiratet und Vater dreier Kinder). Doch als wir ihn einige Monate später anlässlich unserer Hommage um einen Abstecher nach Zürich bitten, kommt postwendend die Antwort. Leider unmöglich, er sei ganz und gar mit der Entwicklung eines neuen Drehbuchs beschäftigt. Wie gesagt: Keiner entkommt sich selbst.
Andreas Furler