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Henri-Georges Clouzot: Kino des Argwohns

Mit dem Dokumentarfilm über L'enfer haben wir im Februar/März-Programm ein legendäres Fragment des französischen Regisseurs Henri-Georges Clouzot (1907–1977) vorgestellt. Nun folgt der versprochene Rückblick auf das Œuvre dieses grossen Perfektionisten, der mit Le salaire de la peur und Les diaboliques den Titel des französischen Hitchcock erlangte und mit seinem kühlen Skeptizismus wegweisend war für das moderne Spannungskino. Manchmal manifestiert sich das Verhängnis in einem Lufthauch. In einer Grossaufnahme sieht man, wie Jo sich in Le salaire de la peur (1953) eine Zigarette drehen will und der Tabak plötzlich vom Papier geblasen wird. Es braucht einen Moment, bis er und sein Partner Mario begreifen, dass sie die Druckwelle der Explosion des ersten Nitroglyzerin-Transporters erreicht hat, dem sie in gehörigem Sicherheitsabstand folgen.
Die nachdrückliche Beiläufigkeit, mit der Henri-Georges Clouzot diesen Schock inszeniert hat, gibt Rätsel auf: Steckt in ihr eine schwermütige Klage, wie rasch die menschliche Existenz ein Ende finden kann? Gleichmütiges Erstaunen? Oder die erzählerische Genugtuung, das Publikum mit einem subtilen Effekt in Schrecken versetzt zu haben?
Die nächste Sequenz scheint eine Antwort zu liefern. Die zwei überlebenden Fahrer erreichen den Ort der Katastrophe. Um nicht im Ölschlamm des entstandenen Kraters stecken zu bleiben, fährt Mario den Lastwagen über die Beine des schreienden Jo hinweg. Kein Mitleid ist in seinen Gesichtszügen zu entdecken, keinerlei Gewissensbisse. In diesem Augenblick scheint sich das französische Kino unwiderruflich vom Ideal der Kameradschaft zu verabschieden, das es vor dem Krieg noch zuversichtlich feierte. Und doch nimmt die Tragödie eine neuerliche Wende: Als sein Partner im Sterben liegt, findet Mario unverhofft Worte und Gesten der Zärtlichkeit; er verdrückt gar eine Träne. Es fällt schwer, darin nur eine Schonfrist des Skrupels zu sehen, bevor Selbsterhaltung und Gier den Überlebenden antreiben, seine tödliche Fracht ans Ziel zu bringen. Aber Clouzot erwartet es vom Zuschauer.

Bescholtene Bürger
Clouzot hat den Ruf, ein robuster Zyniker zu sein, der in seinen Filmen unerbittlich die Schäbigkeit der menschlichen Natur nachweist. Seine Sittenstudien sind von fiebriger Kälte. Schon in seinen ersten bedeutenden Drehbucharbeiten (Les inconnus dans la maison, Le dernier des six) und als Regisseur (L‘assassin habite … au 21, Le corbeau) schildert er, wie jeweils ein Gemeinwesen von Misstrauen, Tratsch und Verrat vergiftet wird. Jeder belauert jeden, jeder könnte ein Denunziant oder Mörder sein. Voller Pessimismus versenkt Clouzot seinen Blick mit jedem Film in einen Mikrokosmos der Gesellschaft – einen Freundeskreis, eine Pension, eine Kleinstadt, eine Schule, die Welt des Variétés oder der jugendlichen Bohème – und scheint dort nur moralische Befleckung zu finden. Unbescholten ist keine seiner Figuren. In den Filmen jedoch, die er während der Besatzung für die von den Deutschen kontrollierte Produktionsfirma Continental schrieb und drehte, herrscht noch ein Erzählgestus der humorvollen Entlarvung. Die Dialoge sind staunenswert unverblümt – Clouzots Figuren sind die ersten im französischen Kino, die Worte wie «merde» und «bordel» im Mund führen –, die Zeichnung der Geschlechterverhältnisse ist ungekannt freizügig.
Das defätistische Bild Frankreichs, das er angeblich in Le corbeau zeichnete, brachte ihm nach dem Krieg zeitweilig Berufsverbot ein. Seine Weltsicht scheint nach der Eindeutigkeit des Schwarzweiss zu verlangen (nur Teile seines Picasso-Porträts und des unvollendeten L’enfer sowie seinen letzten Film hat er in Farbe gedreht). Die menschliche Existenz entfaltet sich bei ihm in der moralischen Dynamik des Helldunkel; gleichwohl bleibt Raum für Ambivalenz. Es mag daran liegen, dass wir seither drastischere Spielarten filmischer Misanthropie gewohnt sind, aber heute wirkt Clouzot wie ein unvoreingenommener Moralist: Er macht sich keine Illusionen über die Verworfenheit seiner Figuren , schürft aber dennoch nach einem Bodensatz aufrichtiger Gefühle.

Ansteckungsgefahr
Als Reporter kam der 1907 geborene Regisseur zum Kino. Während eines Interviews bot ihm der Produzent Adolphe Osso eine Stellung an. Osso finanzierte 1931 auch Clouzots ersten Kurzfilm La terreur de Batignolles, der verschmitzt etliche seiner späteren Themen und Techniken vorwegnimmt. In den dreissiger Jahren arbeitete Clouzot als Drehbuchautor und Regieassistent und fungierte in Berlin als französischer Zweitregisseur bei Filmen, die in mehreren Sprachversionen gedreht wurden. Vier Jahre verbrachte er in diesem Jahrzehnt wegen Tuberkulose in einem Sanatorium. Alles habe er dieser Zeit zu verdanken, sagte er später. Er begriff sie als einzigartige Schule, um zu verstehen, wie Menschen funktionieren. Wenn Dr. Germain (Pierre Fresnay) in Le corbeau von der Klarheit und Stärke spricht, zu der ein Rekonvaleszent nach überwundener Krankheit finden kann, ist dies auch ein Selbstzeugnis des Filmemachers.
Untrennbar und heillos sollten fortan sein Leben und Werk miteinander verknüpft sein. Ein Nervenzusammenbruch und Selbstmordversuch, zwei Herzinfarkte und der tragisch frühe Tod seiner ersten Frau Vera hinterliessen untilgbare Spuren in seinen Filmen. Wie sehr dieser Regisseur vom Tod verfolgt wird, kündigt schon die lange Kamerafahrt über den Friedhof zu Beginn von Le corbeau an. Sie besiegelt einen pathologischen Unterton, der sein Kino durchzieht. Die Atmosphäre des Verfalls, mentale und physische Krankheiten sind Leitmotive seines Werks. Die Reihung, die zwanghafte Wiederholung sind ein frühes Dialog- und späteres Montageprinzip seiner Filme. Alltagsgegenständen konnte er eine ungekannt bedrohliche Aura verleihen.
Nicht nur in der biografischen Beglaubigung seines filmischen Pessimismus erweist sich Clouzot unzweifelhaft als Autorenfilmer. An allen Drehbüchern hat er selbst federführend mitgearbeitet. Selbst die Adaptation einer klassischen Literaturvorlage, seine Modernisierung von Abbé Prevosts «Manon Lescaut», gerät ihm zu einem eminent persönlichen Film, in dem er private Traumata (die Okkupationszeit, seine Beziehung zu der offenbar nur auf der Leinwand hinreissend zänkischen Gefährtin Suzy Delair) verarbeitet. Er hatte den Ruf eines unerbittlichen, im Umgang mit seinen Darstellern auch rücksichtslosen Perfektionisten. Über die eigene Arbeit legte er diskret Rechenschaft ab. Nicht nur in Le mystère Picasso, auch in La vérité und La prisonnière spielen künstlerische Schaffensprozesse eine zentrale Rolle, der Welt des Schauspiels erweist er in Miquette et sa mère eine grosszügige Hommage.
In die Kinogeschichte ist er, bei aller Vielseitigkeit der Sujets, vor allem als Meister des Suspense eingegangen. Nicht von ungefähr wurden von keinem anderen französischen Regisseur in Hollywood derart viele Remakes gedreht: von Les inconnus dans la maison, Le corbeau, Le salaire de la peur und Les diaboliques. Psycho hat Le corbeau und Les diaboliques mehr zu verdanken, als Hitchcock und seine Bewunderer je zugegeben hätten. Der Anfang von Sam Peckinpahs The Wild Bunch beruft sich unzweifelhaft auf den von Le salaire de la peur. Dass all diese Versuche hinter dem Original zurückblieben, verdankt sich dem kühlen, vermeintlich leidenschaftslosen Zugriff Clouzots auf seine Stoffe. Die Spannungsdramaturgie folgt bei ihm einer perfekt geölten Mechanik. Sie verleiht den Situationen Klarheit und Gravität. Clouzots Szenarien sind nervliche und moralische Belastungsproben, die seine Figuren niemals bestehen. Er setzt die landläufigen Mechanismen der Zuschaueridentifikation ausser Kraft: L’assassin habite … au 21 ist womöglich der erste Film, in dem eine Mordszene mit subjektiver Kamera aus der Sicht des Täters gedreht wurde. Die Schockmomente in Clouzots Filmen sind Angriffe auf die Selbstgewissheit des Zuschauers. Und gleichviel, für welche Deutung man sich bei der eingangs beschriebenen Szene aus Le salaire de la peur entscheidet: Sie ist ein Schlüsselmoment im Kino des Atomzeitalters.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin und ist einer der besten deutschsprachigen Kenner der französischen Filmgeschichte.