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Nagisa Oshima: Meister der Unberechenbarkeit

Nagisa Oshima gilt als der wichtigste Neuerer des japanischen Kinos seit 1960. Doch obschon einige seiner Filme vor und nach 1968 auch im Westen Furore machten, kennt man heute bestenfalls noch Im Reich der Sinne oder Nackte Jugend. Kein Wunder, denn Oshima hat die Unberechenbarkeit zum Programm gemacht und war immer schon anderswo, wenn man meinte, ihn zu fassen zu kriegen. Wer sich auf seinen Zickzackkurs einlässt, entdeckt Filme, die genauso überraschungsreich sind, wie ihre Titel klingen: Tagebuch eines Diebes in Shinjuku, Die Rückkehr der drei Trunkenbolde, Über japanische Lieder der Unzucht … Viele davon sind erstmals seit Jahrzehnten wieder in neuen Kopien zu sehen. Ein Vierteljahrhundert lang war Nagisa Oshima der weltweit meist gefeierte moderne Filmemacher Japans, eine Ikone der kulturellen Aufbrüche in den sechziger und siebziger Jahren: Im Westen sah man in ihm einen fernöstlichen Godard, in Japan einen Wortführer der jungen Generation, die den Generalaufstand probte und die öffentlichen Debatten prägte. Sein Kino nutzte «Sex & Crime», um gegen die Heuchelei und den Konsenswillen der japanischen Gesellschaft anzukämpfen. Nach seiner subversiven Buñueliade Max mon amour (1986) wurde es jedoch still um ihn: Er konnte nur noch zwei Dokumentarfilme für die BBC sowie 1999 ein gewaltiges Altersmeisterwerk realisieren: Tabu – einen Samurai-Film mit Takeshi Kitano (und homosexuellem Subtext). Da Oshima nach einem Schlaganfall im Februar 1996 nur bedingt in der Lage war, die Strapazen eines Drehs durchzustehen, stand ihm dabei sein Sohn zur Seite.
Mittlerweile muss man Oshima regelrecht wiederentdecken. Nur wenige seiner Werke – Nackte Jugend (1960), Im Reich der Sinne (1976) oder Merry Christmas, Mr. Lawrence (1983) – sind heute noch zu sehen: drei Augenblicke aus einem unermesslich reichen, vor produktiven Widersprüchen strotzenden Œuvre, das zwanzig Jahre lang nahezu verborgen blieb. Die Retrospektive mit grösstenteils neuen Kopien ist dementsprechend nicht nur eine kleine Sensation, sondern auch eine riesige Chance: Oshimas Kino ist ungleich vielgestaltiger und faszinierender, experimentierfreudiger und unterhaltsamer, als es seine bisherige Wahrnehmung ahnen lässt.

Am Anfang der Nouvelle Vague
Nagisa Oshima, 1932 in Kyoto als Spross eines Schwertadelsgeschlechts geboren, kam eher durch Zufall zum Film. Nach Abschluss seines Jus-Studiums fand er keine Anstellung, weder in der Rechtspflege noch an der Universität noch bei einer Zeitung, da er einen «gewissen Ruf» hatte: Er galt als Radikaler. Im Frühjahr 1952 etwa war er einer der Rädelsführer der studentischen Bewegung gegen die Unterzeichnung des US-japanischen Sicherheitsvertrags (AMPO) gewesen. So landete er eher zufällig bei einer Aufnahmeprüfung für Regieassistenten – und hatte plötzlich einen Job in den Shochiku-Ofuna-Studios. Als sich die krisengeschüttelte Shochiku in den späten fünfziger Jahren nach dem Vorbild der anderen Studios zu erneuern suchte, fiel die Wahl auf Oshima, der 1959 mit Eine Stadt voller Liebe und Hoffnung debütierte. Auch wenn der Film der Chefetage missfiel: Er hatte grossen Erfolg bei der Kritik und ebnete den Weg für die Shochiku-Nouvelle-Vague. Im Jahr darauf feierten gleich fünf ehemalige Assistenten ihr Regiedebüt, von denen immerhin zwei, Masahiro Shinoda und Yoshishige Yoshida, ebenfalls grosse Bedeutung erlangen sollten, während ein dritter, Tsutomu Tamura, als Drehbuchautor zu einem der wichtigsten Mitarbeiter Oshimas wurde.
Oshima reagiert stets unleidlich, wenn man ihn als Gründer einer Bewegung darstellt. In Wahrheit war diese Neue Welle bei Shochiku eine Bündelung verschiedener Innovationen innerhalb der japanischen Filmkultur. So ist etwa Oshimas Trio von Meisterwerken im Jahr 1960 – Nackte Jugend, Das Grab der Sonne und Nacht und Nebel über Japan – mindestens so stark von den formalen Subversionen einiger Genre-Jungmeister bei Nikkatsu und Toei geprägt wie von den radikalen Veränderungen im Dokumentarfilm. Darin liegt ein Hauptgrund für die Einzigartigkeit des japanischen Kinoaufbruchs Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre: In kaum einer anderen Filmkultur jener Zeit befruchteten sich die verschiedenen, traditionell getrennten Produktionssphären so sehr wie hier.
Diesen Umstand sollte man im Hinterkopf behalten, um Oshimas Genie angemessen zu würdigen: Sein Kino lebt vor allem von der Energie, die freigesetzt wird, wenn scheinbar heterogene Elemente zu einer Reaktion gebracht werden. Jene Oshima-Werke, die durch ihre formale Geschlossenheit und abgezirkelte Argumentation bestechen – z. B. Tod durch Erhängen (1968), Der Junge (1969) oder Die Zeremonie (1971) –, geben nur eine von vielen «Perspektiven» in diesem prismatischen Œuvre wieder, ebenso wie seine ganz anders gearteten, dokumentarisch frei fliessenden Essays – Tagebuch eines Diebes in Shinjuku (1969) oder Geheime Geschichten aus der Zeit nach dem Tokio-Krieg (1970). Denn im Kern ist Oshimas Kunst eine permanente Destabilisierung: eine Kunst der Bewegung, nicht des Stillstands. Beständig ist hier allein die Suche, die Art, mit der sich Oshima selbst infrage stellt, neu erfindet, nur um zwei Filme später wieder ein Anderer zu sein.
Einen Zugang zu dieser Geschichte einer furiosen Selbstverwandlung eröffnen gerade jene Oshima-Filme, die bisher kaum rezipiert wurden – ihre Rauheit und ihre Lust am Plakativen, am Pop wie an der Tagesaktualität widersprachen offenbar dem abgesicherten Kritikerblick auf Laufbilder: Werke wie Über japanische Lieder der Unzucht, Japanischer Sommer: Doppelselbstmord unter Zwang, beide von 1967, oder Die Rückkehr der drei Trunkenbolde (1968). Man kann es auch trotzkistisch sagen: Oshimas Kino ist die permanente Revolution.
Wir danken dem Österreichischen Filmmuseum, von dem wir diesen Einführungstext übernommen haben.