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Miklós Jancsó: Eine Schule des Sehens

In seinem einzigartigen Werk setzt sich der 1921 geborene ungarische Regisseur Miklós Jancsó mit universellen Themen wie Macht und Ohnmacht, Tyrannei und Freiheit, Individuum und Politik auseinander. Neben historischen Stoffen – hauptsächlich aus der ungarischen und russischen Geschichte – prägt eine unverwechselbare Formensprache sein Schaffen, das für viele europäische Filmemacher Vorbild war. Es gibt Künstler, deren Qualität auf Anhieb erkannt wird. Andere dagegen müssen fürs verdiente Lob etwas anstehen, und wieder andere – auch das gibt es – versinken nach wenigen Jahren und aus völlig unerklärlichen Gründen wieder im Nichts der Namenlosigkeit, obwohl ihre Meisterschaft den Kennern von Anfang an klar war. Der Maler Pieter Breughel erlitt ein solches Schicksal – und musste gut dreihundert Jahre auf seine Wiederentdeckung warten.
Im Fall des Filmregisseurs Miklós Jancsó könnten wir das Comeback noch zu seinen Lebzeiten feiern. Auch wenn mittlerweile sein Name sogar Fachleuten kaum mehr geläufig ist, hält erstaunlicherweise sein Einfluss auf den europäischen Film bis zum heutigen Tag an, ist doch das Werk eines Theo Angelopoulos oder Béla Tarr ohne sein Vorbild undenkbar.
Der 1921 geborene und mit 88 Jahren cineastisch immer noch höchst aktive ungarische Filmemacher ist ein Spätberufener. Erst 45-jährig gelang ihm mit Die Hoffnungslosen (Szegénylegények) der internationale Durchbruch. Somit ähnelt sein filmisches Profil dem seines grossen Vorbilds Michelangelo Antonioni, dessen Einfluss in einem «frühen» Film wie Cantata (Oldás és kötés, 1963) spürbar ist. Auch Antonioni erkletterte erst spät, mit 48 Jahren und ebenfalls mit nur wenigen Werken den Kino-Olymp. Eines der Stilelemente des italienischen Regisseurs wurde Ausgangspunkt für Jancsós höchst eigenständige Kinematografie: die Vorliebe für ungewöhnlich lange Einstellungen. Hier, in der Kunst der sogenannten «plan séquence» bringt es Jancsó zu einer Meisterschaft, wo mehr als nur die Visitenkarte eines Virtuosen abgegeben wird. Denn sein Kino formuliert die Gesetze der Dramaturgie in vieler Hinsicht derart neu und ungewohnt, dass seine besten Filme bis heute viel von ihrem ursprünglichen Geheimnis bewahrt haben. Oft umkreist die Kamera, als wäre sie der Schwerkraft enthoben, minutenlang das nicht selten rätselhafte Geschehen, so als wäre die Maschine verwirrt ob dem unerklärlichen Verhalten jener seltsamen Wesen, die sich Menschen nennen. Darin liegt die politische Kraft dieser Filme: Sie antworten auf das Unrecht in der Welt mit einem Blick des fundamentalen Unverständnisses. Wie ein Schmetterling, der keine Fesseln kennt, umtanzt Jancsós Kamera die Rituale der Unterdrückung. Über immer länger werdende Plansequenzen erstreckt sich dieser «dance macabre», bis ein Spielfilm wie Elektra, meine Geliebte (Szerelmem, Elektra, 1974) nur noch aus zwölf Einstellungen besteht, die bis zu zwölf Minuten dauern können.

Primat der Bilder
Die Originalität Jancsós reduziert sich aber bei Weitem nicht nur auf Tour-de-force-Aktionen wie diese, wenn sie auch einen hohen Anteil an der visuellen Brillanz seiner Filme haben. Nein, es ist nicht zuletzt die unverwechselbare Dramaturgie, die sein Schaffen ebenso faszinierend wie irritierend macht. Denn dieser Regisseur setzt primär auf Bilder und rechnet kühn mit einem wachen Publikum. Ein Beispiel: Da verhaften während des russischen Bürgerkriegs der zwanziger Jahre Offiziere der zaristischen Konterrevolution ohne ersichtlichen Grund eine Gruppe von Krankenpflegerinnen. Eine weitere Terror-Massnahme scheint sich anzubahnen, von denen der Film Die Roten und die Weissen (Csillagosok, katonák, 1968) schonungslos berichtet, zumal die Frauen in ein einsames Waldstück abgeführt werden. Doch dort tritt mit surrealer Selbstverständlichkeit zwischen Birkenstämmen ein kleines Orchester auf und die Pflegerinnen werden höflich aufgefordert, miteinander einen Walzer zu tanzen. Schweigend schauen ihnen die sonst gnadenlosen Militärs zu. Und als die Musik verstummt, wird ihnen ebenso zuvorkommend deutlich gemacht, dass sie wieder frei sind.
In Szenen wie dieser vereint sich totale Verfügungsgewalt mit einer nostalgischen Sehnsucht der Krieger nach der aristokratischen Kultur, die für immer verloren scheint. All das fängt Jancsó ohne ein Wort der Erklärung, unvorbereitet und ohne erläuterndes Nachspiel in Bildern und Klängen ein. Wenn es für diese Erzählweise ein Vorbild gibt, dann in den Romanen von Joseph Conrad, wo ähnlich unangekündigt und rätselhaft plötzliche Wendungen und lange im Dunkel bleibende Beweggründe die Geschichte vorantreiben.

Das Publikum wird gefordert
Doch Jancsós Vorgehen ist nicht literarisch: Mit rein filmischen Mitteln treibt er die Erkundung von menschlichem Verhalten in Krisensituationen voran. Und das fordert uns Zuschauer manchmal ganz tüchtig heraus. In einem seiner eindrücklichsten Werke, Stille und Schrei (Csend és kiáltás, (1968), vergiften zwei Bäuerinnen allmählich ihre Grossmutter. Offen gestanden: Als ich den Film zum ersten Mal anschaute, habe ich das glatt übersehen! Dabei ist es eines der zentralen Ereignisse in diesem Film, an dessen Ende sich ein untergetauchter Revolutionär nur deswegen der Polizei stellt, weil er eben diesen Mord melden will. Und als wäre das nicht genug, entdeckte ich beim zweiten Schauen gar noch einen zweiten Giftmord! Wenn ich den Film heute wieder ansehe, kann ich meine eigene Achtlosigkeit nicht im Entferntesten mehr nachvollziehen, derart eindeutig sind die beiden Tötungsdelikte inszeniert. Weshalb meine anfängliche Blindheit? Nun, Jancsó eröffnet in seinen Filmen eine veritable Sehschule, in der man zu Beginn nicht weiss, worauf man achten soll. Ein bisschen geht es einem bei seinen Filmen wie jenen Leuten, die in der Frühzeit des Films die ersten sich bewegenden Bilder anschauten und fasziniert vom Zittern der Blätter im Hintergrund die eigentliche Handlung im Vordergrund übersahen…
Am Ende besser wahrnehmen als vorher, was könnte man mehr vom Kino verlangen?
Fred van der Kooij