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Elia Kazan: Der grosse Aussenseiter

Am 7. September würde der amerikanische Regisseur Elia Kazan hundert. Sein Einfluss ist kaum zu überschätzen: als Theatermann, als Mitbegründer des Actors' Studio, als Schauspielerregisseur von ihm entdeckter Stars wie Marlon Brando oder James Dean, vor allem aber als Filmautor, der brisante Themen aufgriff und packend inszenierte. Doch da ist immer noch der Makel jenes Verrats im Kalten Krieg, den Kazan nie ganz loswurde. Es war eine filmreife Szene: Als der 89-jährige Elia Kazan im März 1999 die Bühne des Dorothy-Chandler-Pavillons betrat, um den Oscar für sein Lebenswerk entgegenzunehmen, zeigte die Kamera neben klatschendem Publikum viele betretene Gesichter und ein paar prominente Gäste mit demonstrativ verschränkten Armen. Offensichtlich verunsichert, suchte der alte Mann den Beistand von Martin Scorsese, der seinen Freund mit einer herzlichen Umarmung unter die Fittiche nahm. Robert De Niro, in Kazans The Last Tycoon (1976) in einer seiner besten Rollen zu sehen, brachte in der Laudatio dann die Wertschätzung einer ganzen Schauspielergeneration auf die Kurzformel: «More than anybody, he inspired us.»
Was hier vor den Augen eines Millionenpublikums aufeinanderprallte, waren der Respekt und die Ächtung, die Kazan ein halbes Leben lang begleitet hatten. 1952 hatte der Regisseur von A Streetcar Named Desire (1947) und späteren Meilensteinen wie On the Waterfront (1954) oder East of Eden (1955) vor dem Kongressausschuss zu Untersuchung «unamerikanischer Umtriebe» die Namen von 16 Kollegen genannt, die einst, wie Kazan selbst, der kommunistischen Partei der USA angehört oder ihr nahegestanden hatten. Die Namen waren den Behörden zwar bereits bekannt, der prominente Filmemacher gab dem antikommunistischen Tribunal aber die dringend benötigte Reputation. Kazan hat seine schwerwiegende Aussage mit dem Bekenntnisdrang eines überzeugten Renegaten begründet, sich aber nie öffentlich entschuldigt, was ihm viele nie verziehen haben.
Die Denunziation, die ihm die Fortsetzung seiner Hollywoodkarriere sicherte, stürzte Kazan in eine persönliche Krise, die auch in seinen Filmen Spuren hinterliess. Zeitgenössische Kritiker sahen etwa in On the Waterfront einen Rechtfertigungsversuch, weil der Held dieses Dramas Verrat begehen muss, um anständig zu bleiben – allerdings denunziert er keine Unschuldigen, sondern mafiöse Gewerkschafter.
Unbestritten ist, dass Kazans Filme von ambivalenten Charakteren bevölkert werden, die mit sich und ihrer Umwelt schmerzlich uneins sind und auch von uns Zuschauern oft nur schwer geliebt werden können. Im Spätwerk kommt dann mit The Arrangement (1969) noch ein Film hinzu, der die Selbstbefragung ins Autobiografische verlagert. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse ist Kazans filmischem Universum jedenfalls völlig fremd.

Ein türkischer Grieche in Amerika
Die Erfahrung des Aussenseitertums kennt der am 7. September 1909 in einem Vorort von Konstantinopel geborene Kazan seit seiner Kindheit. Als Sohn eines kleinen Teppichhändlers und einer Mutter aus wohlhabenden Verhältnissen gehört Kazan zur griechischen Minderheit in der Türkei. Zur Emigration gezwungen, zieht die Familie 1913 nach New York – im 1963 entstandenen Auswandererdrama America, America wird Kazan die Familiengeschichte(n) in ein üppiges, überschwängliches Epos in Schwarzweiss verwandeln. Statt Teppichhändler zu werden, wie es sein Vater wünscht, geht Elia 1930 an die Yale Drama School und schliesst sich 1932 dem linken Group Theatre an. Er arbeitet zunächst (eher erfolglos) als Schauspieler, tritt für zwei Jahre der kommunistischen Partei bei und führt Agitprop-Stücke auf. Schon in den dreissiger Jahren lernt er spätere Weggefährten wie Thornton Wilder, Tennessee Williams, Lee Strasberg und Nicholas Ray kennen. Bühnenerfolge, vor allem mit Williams-Stücken, bescheren Kazan erste Aufträge aus Hollywood; 1944 unterschreibt er einen Fünfjahresvertrag bei Twentieth Century Fox.
Aber erst seine Rückkehr nach New York ermöglicht Kazan, zum vermutlich einflussreichsten Schauspieler-Regisseur der fünfziger Jahre zu avancieren: Mit seinem Freund Lee Strasberg, mit Cheryl Crawford und Robert Lewis begründet er 1947 das legendäre Actors' Studio, in dem bis heute die «psychoanalytisch» beförderte Identifikation mit der Rolle gelehrt wird. Stars wie Marlon Brando, James Dean und Montgomery Clift gehen aus dieser Talentschmiede Hollywoods hervor.
Erstmals in Boomerang! (1946), konsequent schliesslich nach seiner beglückenden Dreherfahrung in den Docks von New Jersey für On the Waterfront, meidet Kazan Studiokulissen und arbeitet mit dokumentarischer Präzision an unverwechselbaren Originaldrehorten. Zugleich ist seine Prägung durch das Theater, seine Fokussierung auf die Schauspieler, der emotional erregende Zugriff auf die Stoffe und überhaupt sein Sinn für grosses Drama schon bald unübersehbar. Diese Wirkung wird umso grösser, je souveräner Kazan genuin filmische Ausdrucksmittel einsetzt, je freier seine Kamera die Handlungsräume der Darsteller erkundet. In East of Eden (1955) beispielsweise, folgt sie James Dean alias Cal auf seinen heimlichen, gehetzten Ausflügen zu seiner Mutter und vermittelt in langen Fahrten ein Gefühl für die Ruhelosigkeit dieses getriebenen Aussenseiters.

In Tennessee Williams' Südstaaten
Als Kazan in einem Interview einmal gefragt wurde, welche schauspielerische Entdeckung er für die wichtigste halte, nannte er weder Dean noch Brando, sondern Karl Malden und Eli Wallach: «Es sind eher unscheinbare Typen, aber sie haben das Method Acting nahezu perfektioniert.» Ihren Glanzauftritt haben die beiden Darsteller in Baby Doll (1956), einem der verrücktesten und radikalsten Filme Kazans. Die Tennessee-Williams-Verfilmung erinnert auch daran, wie sehr Kazan immer wieder aneckte durch die Unverfrorenheit, mit der er gesellschaftliche Konventionen der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft infrage stellte, krankmachende Lebenslügen aufspiesste oder – wie in Baby Doll – in ein absurdes Theater verwandelte. Kein Wunder, ereiferte sich die katholische Legion of Decency, die mit Boykottaufrufen regelmässig Druck auf Hollywood ausübte, über den Film: Nicht nur ist die Atmosphäre wie elektrisiert, sobald sich das ehebrecherische Paar (Eli Wallach und Carroll Baker) in dem verfallenden Südstaatenanwesen zu belauern beginnt. Allein das Bild Carroll Bakers, die Lolita-like in ihrer Kinderschaukel liegt und lasziv am Daumen nuckelt, stellte eine Provokation dar – und wurde via Plakatwerbung prompt zur Ikone.
An der Kasse allerdings geriet Baby Doll wie fast alle Werke Kazans ab Mitte der fünfziger Jahre zum Flop. Kazans letzter Film, The Last Tycoon (1976), wurde dann zu seinem berührenden Abschied vom Kino. Die aufwendig angerichtete Scott-Fitzgerald-Verfilmung porträtiert mit der fiktiven Figur Monroe Stahrs (De Niro) de facto den mächtigen MGM-Produzenten Irving Thalberg – auch dies eine zwiespältige, im Grunde wenig sympathische Figur. Nachdem der betrunkene Stahr den Vertreter der Autorengewerkschaft erst provoziert und dann zu verprügeln versucht hat, wird er vom Studio stillschweigend entmachtet. In einem der schönsten Filmenden überhaupt verschwindet Stahr schlicht im Dunkel eines leer stehenden Studiogebäudes.
Kazan hat nach The Last Tycoon als Romancier weitergearbeitet und noch fast drei Jahrzehnte, bis 2003, gelebt. Und doch: Gibt es einen passenderen Abgang als das besagte Finale für einen Filmemacher, der mit seinen schmerzlichen Widersprüchen mitten drin im Hollywoodsystem war und dort zeitlebens ein Fremder blieb?
Kathrin Halter

Kathrin Halter arbeitet als freie Journalistin in Zürich.