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Reedition: Ein Lehrstück von Gier und Macht

Der gebürtige Amerikaner und spätere Wahleuropäer Jules Dassin (1911–2008) schrieb mit neorealistischen Noirs wie The Naked City und Du rififi chez les hommes Filmgeschichte. Mit Thieves' Highway legte er 1949 einen Kriminalfilm vor, der so realitätsnah wie packend von der erbarmungslosen Hackordnung auf dem Gemüsegrossmarkt von San Francisco erzählt. Seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg hat Nick Garcos noch ein paar Jahre als Schiffsmechaniker angehängt, nun kommt er heim, beladen mit Geschenken für Eltern und Braut. Doch ihn erwartet eine böse Überraschung: Sein Vater hat bei einem mysteriösen Lastwagenunfall, in den der Früchtegrosshändler Figlia verwickelt war, beide Beine verloren – ein Schicksal, das die Eltern ergeben tragen. Entschlossen, kein «push-around» zu werden wie sein Vater, erwirbt Nick mit seinen Ersparnissen kurzerhand selber einen Truck und macht sich mit einem Kumpel und einer Ladung begehrter Äpfel nach San Francisco auf, um sich Figlia vorzunehmen.
Was folgt, ist die immer wieder überraschende Wendungen nehmende Konfrontation des Heimkehrers mit der «zivilen» Realität, aus der Nick über Jahre ausgeklinkt war. Und dies bedeutet, dass man sich dauernd der Profiteure erwehren muss, dass die Schwachen die noch Schwächeren abzuzocken versuchen und dass im Grossmarkt von San Francisco das erbarmungslose Gesetz von Angebot und Nachfrage herrscht. Erbarmungslos vor allem, weil der korrupte Figlia dieses Gesetz mitdiktiert. Dabei macht Dassin, der durch seine kurze Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei zu einem Opfer der McCarthy-Ära wurde, deutlich, dass einige der lichtscheuen Gestalten letztlich arme Teufel sind, die alles auf eine Karte gesetzt haben und nun verzweifelt erkennen, dass es die falsche war. Während die einen angesichts des Unglücks anderer zu Mitgefühl, ja Solidarität noch einigermassen fähig sind, suchen wieder andere, von nackter Gier getrieben, noch in der Katastrophe den Profit und gehen dafür über Leichen.
Jules Dassin hat in seinem letzten Film, den er in den USA vor seinem Exil drehte, typische Noir-Elemente wie die Figur des Kriegsheimkehrers, die nächtliche Grossstadt, undurchschaubare kriminelle Machenschaften und zwielichtige Frauenfiguren mit Merkmalen des Neorealismus verbunden: Die Szenen im Früchte- und Gemüsegrossmarkt haben dokumentarische Qualität, hier mischt sich die Noir-Atmosphäre mit der präzisen Beobachtung des Marktgeschehens. Gedreht hat er weitgehend an Originalschauplätzen wie schon in seinem nicht zuletzt darum bahnbrechenden New-York-Schattenspiel The Naked City (1947).

Bemerkenswerte Frauenfiguren
Keineswegs nur typisch Noir sind die Frauenfiguren. Neben der Mutter, herzlich, aber ebenso unterwürfig wie der Vater, ist da die Femme fatale Rica, eine italienische Immigrantin, die sich aus wirtschaftlicher Not im Marktdistrikt von San Francisco prostituiert und anfänglich Figlia in die Hände spielt. Aussagekräftiger für die Entstehungszeit sind zwei weibliche Nebenfiguren. Polly, Nicks Braut, verhält sich eigentlich so, wie ein Kriegsheimkehrer dies nur hoffen konnte: Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als seine Frau zu werden. Doch Dassin scheint nur Verachtung für sie übrig zu haben. Mit ihrer Perlenkette, ihren Allüren, will sie nicht recht zu einem Secondo wie Nick passen. Als sie erkennt, dass die Finanzierung der gemeinsamen Zukunft in Frage gestellt ist und ihn darauf unvermittelt verlässt, sind Nick, und wir mit ihm, fast erleichtert. Hat sich der Kommunist Dassin hier über kleinbürgerliche Träume und Besitzansprüche lustig gemacht? Und schliesslich ist da noch die resolute Obstzwischenhändlerin Midge. Fast alle Männer auf dem Grossmarkt um einen Kopf überragend, setzt sie sich sogar bei Figlia rücksichtslos durch. Und als dieser Nick über den Verkaufspreis seiner Ware belügt, ist sie es, die den Geprellten ins Bild setzt. Sie ist eine Vertreterin jener Frauen, die im Krieg Männerarbeit übernommen haben, sich aber danach nicht an den Herd haben zurückdrängen lassen.
Corinne Siegrist-Oboussier