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Le Groupe 5: «Piratenkino» vom Genfersee

1969 wurde in Cannes Charles mort ou vif uraufgeführt. Die Überraschung war gross, denn der Regisseur (Alain Tanner), die Herkunftsregion (Romandie) und die Produktionsstruktur (Groupe 5) waren gleichermassen unbekannt. Der Zusammenschluss von fünf Westschweizer Filmemachern zur Groupe 5, die in vier Jahren sieben für den «Neuen Schweizer Film» grundlegende Werke hervorbringen sollte, hatte ebenso pragmatischen wie programmatischen Charakter. «Papas Kino ist tot», las man in Deutschland Anfang der sechziger Jahre; «das alte Kino ist tot», stand in einem berühmt gewordenen Manifest, das jüngere deutsche Filmemacher 1962 in Oberhausen publizierten; später wurde das meist zugespitzt zitiert als «Opas Kino ist tot».
In diesen Sätzen drückte sich das Unbehagen am herkömmlichen Produzentenkino aus, das sich – notgedrungen, solange es keine Filmförderung durch die öffentliche Hand gab – rein an den (hypothetischen) Marktchancen des Produkts Film orientierte, sich daher an altbewährte Erfolgsrezepte klammerte und an Stars, die sich als publikumsattraktiv erwiesen hatten. Dem setzte, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland – das Free Cinema in Grossbritannien und die Nouvelle Vague in Frankreich waren vorangegangen –, eine junge Generation von Filmemachern die Forderung nach «neuen Freiheiten» (Oberhausener Manifest) entgegen: nach einem konzeptionellen, geistigen wie künstlerischen Neubeginn.

Autoren mit Produzentenverantwortung
So nahe die Begründer der Groupe 5 ihren gleichaltrigen Kollegen in anderen Ländern standen – Alain Tanner und Claude Goretta hatten mit ihrem Kurzfilm Nice Time sogar einen Beitrag zum Free Cinema geleistet –, die Verhältnisse in ihrer Heimat waren weitgehend andere: In der Romandie gab es keine nennenswerte kontinuierliche Spielfilmproduktion. Dennoch hatten einzelne Regisseure 1966/67 den Schritt zum Spielfilm gewagt: Jean-Louis Roy mit der internationalen Koproduktion L'inconnu de Shandigor und Michel Soutter, der (dank einem Mäzen) La lune avec les dents für einen verschwindenden Bruchteil von Roys Budget drehte, während Claude Goretta seinen ersten langen Spielfilm Jean-Luc persécuté als reine Fernsehproduktion realisierte.
Tatsächlich kam als Geldgeber praktisch nur das Fernsehen in Frage; Kinospielfilme waren gemäss dem Filmgesetz bis April 1970 von der Filmförderung des Bundes ausgeschlossen. Der Entschluss von Michel Soutter (1932–1991), Alain Tanner, Claude Goretta, Jean-Jacques Lagrange (alle 1929 geboren) und Jean-Louis Roy (*1938), sich als Gruppe zu formieren, um gegenüber dem Fernsehen – für das sie zuvor schon gearbeitet hatten – als Produzenten auftreten zu können, hatte daher vorwiegend pragmatischen Charakter. Tatsächlich konnten sie einen ersten Vertrag abschliessen, in dem sich die Télévision Suisse Romande verpflichtete, 1969/70 je ein Projekt der fünf zu finanzieren. Die Zusage erfolgte aufgrund des vorgelegten Drehbuchs, danach war der Filmemacher ohne weitere Einmischung von seiten des Fernsehens als Produzent voll für das Projekt verantwortlich. Allerdings blieb der finanzielle Beitrag des Fernsehens bescheiden: 60 000 Franken pro Film, rund die Hälfte des jeweiligen Budgets, machte er im ersten Vertrag aus; bei dessen Erneuerung für abermals fünf Filme in den Jahren 1971/72 stieg er auf 80 000 Franken (teuerungsbereinigt entspricht dies 190 000 bzw. 250 000 Franken).
Es waren nach heutigen Begriffen No-Budget-Produktionen oder, wie es Alain Tanner formulierte, ein «cinéma pirate». Und doch begründeten die sieben Filme, die so entstanden, international den Ruf des «Nouveau cinéma suisse»: Charles mort ou vif und Le retour d'Afrique von Tanner, James ou pas und Les arpenteurs von Soutter, Le fou und L'invitation von Goretta sowie Black out von Jean-Louis Roy (Roy drehte schliesslich nur diesen einen, Lagrange gar keinen Film in diesem Rahmen). Auf die Anerkennung im Ausland folgten nach und nach, grösstenteils von den Filmemachern selbst erarbeitet, eine zögerliche Verbreitung und erste Achtungserfolge in den Kinos der Romandie und sogar der deutschen Schweiz.

Eine Ästhetik der Armut
«Charles mort ou vif ist frei von den Zwängen eines etablierten Produktionssystems. Da gibt es keine Produktion, kein System. Zu jener Zeit gab es in der Schweiz gar nichts. Man musste alles erfinden, bei Null beginnen, das war bestimmt ein Vorteil. Das schuf eine eigene Dynamik zwischen kleinen Gruppen von Leuten mit starkem Schaffensdrang. Wir sorgten uns überhaupt nicht um den Markt. (…) Die Freiheit, die hier total war, trug wesentlich dazu bei, dass einzigartige Werke geschaffen und neue Formen ausprobiert wurden. (…) Es gibt eine Ästhetik der Armut in dem Masse, wie diese Freiheit dem Inhalt entspricht.» (Alain Tanner: Ciné-mélanges, Paris 2007)
Den Mitgliedern der Groupe 5 war wesentlich, sich mit dieser Struktur die kreative Freiheit zu bewahren, als Autoren ihre Filme nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Auch wenn die künstlerischen Temperamente, die sich zusammengefunden hatten, ganz unterschiedlich waren, so sind doch einige Gemeinsamkeiten ihrer Werke unübersehbar. Zum einen haben sie einen deutlichen und kritischen Bezug zur helvetischen Realität – was wohl ebenso sehr dem allgemeinen politischen Klima der Nach-Achtundsechziger-Jahre zuzuschreiben ist wie den Diskussionen im Freundeskreis der Groupe 5.
Zum andern gleichen sich die Schwarzweiss- bzw. Graubilder der ersten Serie: Die beschränkten Budgets erlaubten nur das Drehen in realen Dekors, auf 16-mm-Film (mit späterem Blow-up für den Kinoeinsatz), sie limitierten die Beleuchtungsmittel und schränkten die Bewegungen der Kamera ein. Arbeiten liess sich so eigentlich nur mit befreundeten Technikern und Darstellerinnen, die zu symbolischen Gagen oder auf Beteiligung mitwirkten.
Bestimmte also das Budget den Film, oder war es umgekehrt? Claude Goretta, dessen Invitation deutlich zeigt, dass er die etwas grösseren Mittel auch in filmische Qualität umzusetzen wusste, betonte 1973 in einem Interview die Gefahr, in grosse Produktionen zu verfallen. «Wir halten es für wesentlich, dass die Budgets unseren Filmen angepasst sind, und nicht umgekehrt.»
Nur vier Jahre später musste Michel Soutter feststellen, dass sich die kleinen, persönlichen Filme praktisch nicht mehr finanzieren liessen und dass es leichter war, für eine prestigeträchtige internationale Koproduktion mit einem oder mehreren Stars das nötige Geld zu finden. Er stellte 1977 gegenüber Bruno Jaeggi in einem Interview mit der Basler Zeitung im Rückblick auf die Zeit der Groupe 5 fest: «Wir hatten eine einmalige Chance mit unseren relativ billigen, einfachen Filmen, die jedem das Recht auf einen Misserfolg gaben, auf ein persönliches Abenteuer, um seine eigene Stimme und Kreativität zu finden. Wir hatten die Chance, wirklich Neues zu schaffen. Im heutigen System ist das nicht mehr möglich (…), da haben wir alle eine grosse Chance verpasst: Jetzt fallen wir zurück in die traditionellen Produktionsformen. Nicht wir haben verraten: Wir sind verraten worden.»
Martin Girod