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Martin Scorsese: Mit voller Wucht

Für viele ist der 1942 geborene Italoamerikaner Martin Scorsese der grösste lebende Regisseur schlechthin. Fast dreissig Langfilme aus vierzig Jahren umfasst sein kraftvolles Werk mittlerweile, vom europäisch inspirierten Autorenfilm über uramerikanisches Genrekino, musik- und filmhistorische Essays bis zum Kostümdrama reichend. Wir zeigen sie alle, darunter als Zürcher Premieren die Langfassung von New York, New York, das Dylan-Porträt No Direction Home und die Blues-Dokumentation Feel Like Going Home. Den Oscar für die beste Regie hat er erst mit The Departed 2007 bekommen, will sagen: als Trostpreis für übergangene Meisterwerke. Mit Ausnahme dieses späten Thrillers war auch kein einziger seiner Filme ein wirklicher Kassenschlager. Dennoch herrscht unter Cinephilen weitgehend Einigkeit, dass Martin Scorsese zumindest unter den aktiven amerikanischen Filmregisseuren der bedeutendste ist. Keine Bestenliste, auf der Filme wie Taxi Driver (1975), Raging Bull (1980) oder GoodFellas (1990) nicht auftauchen. Kaum ein Monat ohne Fernsehausstrahlung von The Color of Money (1986) oder Cape Fear (1991). Und auch ursprünglich bescheidenere Erfolge wie New York, New York (1977), The Age of Innocence (1993) oder Casino (1996) haben längst eine breite Anhängerschaft, welche die Vitalität und die Raffinesse dieser Filme preist. «Heutige Studenten», so der amerikanische Filmprofessor David Bordwell in einem Gespräch, «verehren ja heutige Filmgötter wie Quentin Tarantino und David Fincher, daneben aber fast unisono Scorsese.»

Kompromisslose Überhöhung
Scorseses Grösse besteht – auf eine Formel gebracht – in der kühnen Synthese von Naturalismus und Expressionismus, mit der er amerikanische Obsessionen und Neurosen ins Mythische steigert. Seine Filme sind zunächst akribische Milieustudien, die uns mit einer enzyklopädischen Fülle an Informationen versorgen, ganz gleich, ob sie unter Italoamerikanern der vierziger Jahre, Las-Vegas-Gangstern der siebziger oder in der New Yorker Oberschicht des 19. Jahrhunderts spielen: Kleider und Dekors, Sprache und Gesten – sämtliche sozialen Codes werden so detailgetreu wie liebevoll rekonstruiert.
Ob dieser Fülle verliert Scorsese jedoch kaum je das grosse Drama aus dem Blick, und dieses überhöht er kompromisslos. Taxi Driver, die Ballade vom schleichenden Realitätsverlust und Blutrausch eines vereinsamten New Yorker Taxifahrers, lässt das banale Gefährt des Helden schon in der ersten Einstellung wie ein Gespensterschiff aus weissem Nebel auftauchen. Raging Bull, die Selbstzerstörungsgeschichte Jake La Mottas, beginnt mit einer traumtänzerischen Zeitlupenaufnahme des Boxers, der sich mutterseelenallein im Ring für einen Kampf aufwärmt – doch wird diese Stilisierung umgehend gebrochen durch das naturalistische Gegenbild des aufgedunsenen Entertainers La Motta, der gut zwanzig Jahre später in einer Nachtklub-Garderobe eine gänzlich glanzlose Aufwärmrunde absolviert. So pendeln Scorseses Filme unablässig zwischen grossem Illusions- und unerbittlichem Desillusionierungstheater.
In der stilistischen Pendelbewegung steckt eine zweite, soziale. Wie nur wenigen gelingt es Scorsese nämlich, einen ganzen Kosmos aufzureissen, indem er sich unablässig zwischen öffentlicher und privater Sphäre bewegt. Raging Bull, um das obige Beispiel fortzusetzen, springt von der Garderobe des abgehalfterten La Motta von 1964 sofort wieder zurück in die Kampfarena von 1941, wo es wegen eines umstrittenen Ringrichterentscheids gerade zu einem Krawall kommt. In der Folge wechselt der Film systematisch zwischen dem häuslichen und dem öffentlichen Drama La Mottas hin und her, wobei nicht der klischeehafte Unterschied zwischen öffentlichem Schein und privatem Sein zutage tritt, sondern die konstante Abgründigkeit eines manischen Charakters: da die furchterregende Kampfmaschine, die mit ihrer Sturheit nicht nur allen Faustschlägen, sondern auch allen Korrumpierungsversuchungen trotzt, dort der fürchterliche Macho, der sich mit seiner Gewalttätigkeit um alle Lieb- und Freundschaften bringt.

Komprimierte Fülle
Weil Scorsese in seinen Hauptwerken über das Charakterporträt hinaus immer auch auf das Zeitgemälde abzielt, ist er auf einen hocheffizienten Erzählstil angewiesen; anders wären seine ambitiösen Plots in zwei, drei Stunden nicht unterzubringen. Mit seinem ersten Grossprojekt, New York, New York, machte er in dieser Hinsicht lehrreiche Erfahrungen. Der Film sollte eine realistische Beziehungsstudie im Musikermilieu, eine Reverenz an die glamourösen Musicals der Studioära und eine Jazz-Enzyklopädie vom Swing bis zum Bebop werden ... Prompt sprengte er jeden Rahmen. Die Drehzeit schwoll von geplanten elf auf zwanzig Wochen an, die erste Schnittfassung war viereinhalb Stunden lang, allein die – umwerfende – Eröffnungssequenz, in der sich Robert De Niro an Liza Minnelli heranmacht, dauerte zunächst eine geschlagene Stunde.
In der Folge kam Scorsese auf jenes Wechselspiel aus expressiv verknappten und naturalistisch-analytischen Szenen zurück, das er in Taxi Driver erstmals zur Meisterschaft gebracht hatte: eine hochauthentische, breit angelegte Milieuschilderung, in der die monotone Haupttätigkeit des Helden, das Taxifahren, fast nur als stilisierte Metapher für seine Isolation vorkommt. Ähnlich werden in Raging Bull die meisten Boxkämpfe auf wenige drastische Hochdruckszenen komprimiert und dadurch zu Sinnbildern für einen Mann, der stets mit dem Kopf durch die Wand will.
Im Frühwerk erreicht Scorsese, damals schon ein wandelndes Filmlexikon, derlei Verdichtungen noch durch Anlehnung an die avantgardistische Montagetechnik des russischen Revolutionsfilms: Einzelne Bewegungen werden durch rasant montierte Wiederholungen spielerisch betont, ganze Zeiträume durch ein Potpourri kurzer Einstellungen auf Sekunden komprimiert. Im späteren Werk kommen ausgeklügelte Kamerafahrten hinzu, in denen eine ganz Welt mit all ihren ungeschriebenen Gesetzen erfasst wird. Im Mafiaepos GoodFellas beispielsweise findet sich die legendäre Steadycam-Szene, in welcher der Held unter allseitigem Verteilen von Trinkgeldern einen ausverkauften Nachtklub via Hintereingang, Keller und Küche betritt, um endlich an einem eilends herbeigeschafften Tisch in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Mit einer einzigen Geste wird so die alle sozialen Ebenen durchdringende Vettern- und Privilegienwirtschaft der Mafia vorgeführt, welcher der Protagonist von Kind an verfallen ist. In einem vergleichbaren Bravourstück schwebt die Kamera in The Age of Innocence walzerhaft durch die Zimmerfluchten und Menschenansammlungen eines Balls, um uns mit den Ritualen der alten New Yorker High Society vertraut zu machen.

Bis zum Exzess und nicht darüber hinaus
Die Fiebrigkeit von Scorseses Stil korrespondiert mit dem getriebenen Charakter seiner Helden. Ihr prototypischer Darsteller ist im Verlauf von bislang acht Filmen nicht zufällig Robert De Niro geworden, der exzessivste «method actor» seiner Generation, der sich vom Taxifahren über das Saxofonspielen bis hin zu massiver Verfettung alle Attribute seiner Figuren mit naturalistischer Inbrunst angeeignet hat und in den späteren Filmen von ähnlich obsessiven Darstellern wie Daniel Day-Lewis und Leonardo DiCaprio abgelöst worden ist.
Als Besessene verfolgen Scorseses Figuren ihre Ziele, doch der amerikanische Traum vom Aufstieg, vom grossen Geld oder vom selbst geschmiedeten Glück will sich kaum je erfüllen. Vielmehr erzählt Scorsese fast immer, wie Begehren und Gier die Wunscherfüllung vereiteln: Der Box- und der Jazzfanatiker ruinieren ihre Ehen, die über die Stränge schlagenden Mafiosi werden eliminiert, die Gangleader und der Industrielle, die Cops und Gangster der jüngsten Filme zerstören sich gegenseitig oder gleich selbst, und die Filme ziehen bald tieftraurig, bald bitter-ironisch Bilanz über die Unfähigkeit der Figuren, allesamt Männer, sich zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Es ist diese stiernackige Dummheit der Protagonisten, die einem das Vergnügen an Scorsese-Filmen bisweilen trüben kann. Schon J. R., der Held des Erstlings Who's that Knocking at My Door, ist – bei allem Verständnis für die Prägung durch das katholische Little Italy der sechziger Jahre – schlicht ein Trottel, wenn er seiner Freundin eine frühere Vergewaltigung grossmütig verzeiht. Und die Bilanz wird vom Folgefilm Mean Streets über New York, New York und Raging Bull bis zu Casino und The Aviator nicht besser: Machismo, Gewalttätigkeit und Egomanie, die resultierenden Verheerungen sind bisweilen schwer zu ertragen, zumal der einstige Priesterseminar-Aspirant Scorsese den melodramatischen Abgang in den Tod kaum einem seiner Helden gönnt. Unerlöst leben sie weiter mit ihren verfehlten Lebensprojekten und unerfüllten Lieben. Meist bleibt sogar zweifelhaft, ob sie wenigstens für sich selbst etwas begriffen haben. Erlösung mag es im Jenseits geben, hienieden wird erst einmal gebüsst.
Andreas Furler