Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Deutsch-tschechische Filmbeziehungen: Dialog benachbarter Kulturen

Die wechselhaften, oft spannungsgeladenen deutsch-tschechischen Beziehungen waren das Thema des Hamburger CineFests 2007. Das Filmpodium zeigt eine Auswahl von Werken, die das Thema exemplarisch beleuchten: von der deutschsprachigen Prager Kulturtradition, für die der Name Franz Kafka steht, über den deutschen Einmarsch 1939 bis zur behutsamen Annäherung an die gemeinsame Vergangenheit im Nachkriegsfilm. Tschechien und Deutschland – zwei Nachbarstaaten in der Mitte Europas, die ein schwieriges Verhältnis verbindet. Besetzung, Krieg, Vertreibung, dann der Eiserne Vorhang, der die Staaten (abgesehen von der DDR) über 40 Jahre, bis zur «Samtenen Revolution» in der Tschechoslowakei im November 1989, trennte, zumindest aber den kulturellen und politischen Austausch erschwerte. Auch heute noch gibt es Irritationen im Verhältnis beider Länder, etwa angesichts des geplanten Vertriebenen-Museums in Berlin. Zur Kompliziertheit der gemeinsamen Geschichte trägt bei, dass im Nordwesten der Tschechoslowakei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Nationalitäten lebten, in Sprache und Kultur sogar miteinander konkurrierten: «Wer in Prag geboren wurde, kam 1913 als österreichischer Untertan, 1923 als tschechoslowakischer Staatsbürger und 1943 als ‹Protektoratsangehöriger› zur Welt und war entweder tschechischer oder deutscher Nationalität.» (Johannes Roschlau)

Mythisches und realistisches Prag
Vor diesem Hintergrund spürte das CineFest den deutsch-tschechischen Filmbeziehungen nach, ein Programm, das das Filmpodium nun in Ausschnitten aufnimmt. Dabei im Mittelpunkt: Prag, die Grossstadt zwischen Mythos und Magie, zwischen Sehnsucht und Verklärung, zwischen Romantik und Versuchung. Kristina Söderbaum erträumt sie sich gar als Die goldene Stadt, hell glitzernd und von Wasser umspielt. Der Gedanke an Prag, diese schillernde Metropole, lässt sie nicht los. Fast erscheint sie als leuchtender Stern, dem sie folgen muss. Doch der Lockruf führt in die Katastrophe. Von der Grossstadt droht trotz ihrer romantisch verklärten Schönheit vor allem Gefahr.
Dieser zweite deutsche Farbfilm, 1942 von Veit Harlan inszeniert, war sowohl in Deutschland, wo ihn über 30 Millionen Menschen sahen, als auch im besetzten Europa ein überragender Erfolg, nicht zuletzt wegen der beliebten Schauspieler und der aufwendig inszenierten Vorlage, des damals bekannten Bühnenstücks «Der Gigant» von Richard Billinger. Unter der Ebene der Unterhaltung verbarg sich ein Propagandafilm reinsten Wassers. Die deutschen Ansiedler werden als rechtschaffen und tüchtig charakterisiert, alles Unglück geht von den Tschechen, zumeist Verbrecher, Verführer oder Alkoholiker, aus; die Grossstadt erscheint als Sündenbabel. In Prag selbst war der Film verboten. Die Filmmusik von Bedřich Smetana, Motive aus «Mein Vaterland», hätte die patriotischen Gefühle der Tschechen, so die Befürchtungen der NS-Funktionäre, schüren können.
Ein sehr viel realistischeres Bild von Prag zeichnet So ist das Leben (Takový je život), von Carl Junghans 1925 geschrieben und vier Jahre später inszeniert. Die Geschichte vom Leben und tragischen Tod einer armen Wäscherin, dargestellt von Vera Baranowskaja, die 1926 Pudowkins Mutter unvergesslich verkörpert hatte, entstand unter schwierigen Bedingungen. Die Darsteller mussten auf ihre Gage verzichten, bereits zugesagte Produktionsgelder wurden storniert, schliesslich fand sich kein Verleih, weil die Ära des Tonfilms angebrochen war und das Publikum keine Stummfilme mehr akzeptierte. Und doch, so der Filmhistoriker Jerzy Toeplitz: «Junghans hat aus der scheinbar unwichtigen Notiz aus der Chronik-Spalte der Tageszeitung (eine Wäscherin hat sich verbrüht und stirbt) eine klassische Tragödie zu machen vermocht, indem er hervorragend angelegte Gestalten einführt und eine Kette von unerbittlichen Konsequenzen aufbaut.»
Zu den Entdeckungen im Programm gehört die zweite Stummfilmversion von Der Student von Prag, 1926 von Henrik Galeen mit Conrad Veidt und Werner Krauss inszeniert. Während der Vorgänger von 1913 mit Paul Wegener als Wegbereiter des deutschen Expressionismus gilt und somit zum Kanon der Filmgeschichtsschreibung gehört, ist die zweite Version weniger bekannt. Dabei ist sie in ihrem romantischen Doppelgängermotiv, das auf E. T. A. Hoffmann, Adalbert von Chamisso und Edgar Allan Poe zurückgeht, nicht minder düster und beklemmend. Darüber hinaus lässt sich der Film aber auch als Actionfilm mit glaubwürdigen Spezialeffekten, perfekt choreografierten Fechtszenen und einer rasanten Verfolgungsjagd geniessen. Das Eigenartige: Prag spielt hier als Stadtbild, im Gegensatz zum Original, kaum eine Rolle. Gedreht wurde zumeist auf Wiesen und Waldstücken sowie extra gebauten Sets.

Deutsche Okkupation und ihre Folgen
Ein weiterer Themenschwerpunkt des CineFests, neben dem Mythos Prag, hiess «Okkupation und Zweiter Weltkrieg». In dem amerikanischen Dokumentarfilm Crisis, 1939 gedreht mit der Beteiligung tschechischer Filmemacher, geht es vor allem um Hitlers aggressive Expansionspolitik, den Taumel der Sudetendeutschen, «heim ins Reich» zu wollen, das Münchner Abkommen, die Abtretung der deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens und Mährens und schliesslich um die Besetzung der «Rest-Tschechoslowakei» – die Slowakei hatte ihre Unabhängigkeit erklärt – im März 1939. Dem gegenübergestellt ist der deutsche Propagandafilm Schicksalswende, der mit geschickter Montage und perfidem Kommentar das Kunststück fertigbringt, den Tschechen die Schuld an der Krise zuzuschieben und gleichzeitig die Errungenschaften der Sudetendeutschen herauszustellen. Die bittere Erkenntnis: Geschichte kann, je nach Absicht, uminterpretiert, entstellt werden.
Adelheid, 1969 von František Vláčil inszeniert, ist das sensible Psychogramm zweier Menschen, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Zugehörigkeit – er tschechischer Offizier, sie die Tochter eines Nazis – nicht zusammenkommen. Die zunächst zögerliche, spannungsvolle Annäherung zwischen Mann und Frau, angesiedelt in den letzten Wochen des Krieges, schlägt unvermittelt in Entfremdung um – Versöhnung scheint nach Jahren der Besetzung, des Kriegs und dem Verlust der Heimat nicht möglich.
Auch Hilde, das Dienstmädchen beleuchtet, diesmal aus ostdeutscher Sicht, die Sudetenkrise 1938. Die DEFA-Produktion von 1986 thematisiert sowohl den Widerstand gegen Hitler als auch das sexuelle Erwachen eines 14-jährigen Jungen, der für die schöne Titelheldin schwärmt, ohne sich ihr nähern zu können. Auch hier verhindern die historischen Umstände, dass die Menschen zueinanderfinden.
Zu den Überraschungen zählt Rudolf Noeltes Verfilmung des Kafka-Romans Das Schloss, der sowohl zum deutschen als auch zum tschechischen Kulturerbe gehört und beweist, wie sehr beide Kulturen in Prag miteinander verwoben waren. Der Film von Rudolf Noelte, 1971 beim Kinostart als «naturalistisches Elendsdrama» (Der Spiegel) und «kunstgewerblich» (Film-Dienst) abgetan, überzeugt durch die Schilderung menschlicher Unzulänglichkeit und die Undurchsichtigkeit eines bürokratischen Apparats. Dabei ist das Schloss in vielen Einstellungen ganz nah zu sehen. Eigentlich müsste Maximilian Schell – er war als Koproduzent und Koautor auch treibende Kraft des Films – in der Rolle des K. nur hinübergehen, was seine Bemühungen noch absurder erscheinen lässt.
Michael Ranze

Michael Ranze lebt als freier Filmjournalist in Hamburg. Er schreibt u. a. für die Zeitschriften epd Film und Steadycam.
Das CineFest wird organisiert von Cinegraph Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin. Der Katalog mit reichen Informationen zu den deutsch-tschechischen Filmbeziehungen und einer DVD ist für im Kino erhältlich (Preis: Fr. 34.–).