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Reedition: Zärtlicher Zyniker

Wenn ein Film bei seiner Premiere für altmodisch erklärt wird, stehen die Chancen gut, dass ihm die Jahre wenig anhaben können: Billy Wilders Komödie Avanti! von 1972 ist heute frischer denn je. Nun ist C. C. Baxter, der kleine Bürolist aus Billy Wilders The Apartment, doch noch in der Chefetage angekommen. Dort heisst er Wendell Armbruster und klagt über Magengeschwüre, hält ein Oben-ohne-Restaurant für aufgeschlossen und findet eine Affäre okay, solange daraus keine Liaison wird. Jack Lemmon ist zwölf Jahre älter, und aus The Apartment ist Avanti! geworden – ein glatter Etikettenschwindel übrigens, denn Billy Wilder hat nur eines im Sinn: Sein liebstes Nervenbündel nackt auf einem Felsen im Meer endlich ruhigzustellen.
Zuvor ist Wendell überhastet vom Golfplatz in Baltimore nach Ischia im Mittelmeer geflogen, weil sein Vater dort bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Ruckzuck soll die Leiche überführt werden. Aber in Italien dauert nicht nur die Mittagspause länger als anderswo. Und das ist erst der Anfang vom Ende des Magengeschwürs.
Auf der legendären Kurinsel erwartet Wendell eine heilsame Schocktherapie, die mit der Enthüllung eingeleitet wird, dass im Wagen des gottesfürchtigen alten Herrn dessen langjährige heimliche Geliebte mit ums Leben gekommen ist. Deren Tochter Pamela ist deshalb ebenfalls auf Ischia, und so kann sich das Vermächtnis des verblichenen Liebespaars glücklich entfalten: Wendell und Pamela erben eine Liaison.

Altmeisterlich statt neumodisch
1972 wurde Wilder Altmeister genannt und seine gemächlich schlendernde Liebeskomödie hielt man für altmodisch. Etwas nackte Haut, ein bisschen explizite Sprache – und doch alte Schule.
Wilder selbst fand, Jack Lemmon sei für diese Rolle zu alt, Juliet Mills zu wenig fett, und gewagter wäre gewesen, dem Verblichenen Homosexualität unterzujubeln. Alles falsch! Jack Lemmon ist die perfekte Verkörperung eines saturierten Magengeschwürs, Juliet Mills ist rührend, gerade weil sie nicht dick ist, sondern sich nur dick fühlt, und auch die gute alte Liebesaffäre hat die Zeit besser überdauert als ein aufgesetzter Tabubruch.
Und noch immer entfaltet sich Wilders Timing in scheinbarer Betulichkeit hinreissend. Ein ominöser Kleidertausch im Flugzeug wird erst Minuten später aufgelöst, wenn wir schon nicht mehr auf eine Pointe hoffen. Und ein nasser Schwamm in der Hose zeigt seine Wirkung mit effektvoller Verzögerung. Diese Punktlandung beendet eine der wunderbarsten Szenen des Films, in der ein pedantischer Leichenbeschauer sein gesamtes Büro in einem tadellos sitzenden Sakko auf sich trägt und mit manischer Präzision vor uns auslegt. Als er synchron zwei Kugelschreiber zur Unterschrift zückt, glaubt man sich für Sekunden in einem Spaghettiwestern.
Auch auf Nebenrollen versteht sich Wilder wie eh und je: Clive Revill ist als unermüdlicher Hoteldirektor Carlucci eine distinguierte Mischung aus Pfadfinder, Beichtvater und Vorstopper.

Humanisten müssen nicht schwachsinnig sein
Während sich der Humanist Wilder sonst meist erfolgreich hinter dem Zyniker zu verbergen versteht, lässt er Ersterem in Avanti! beinahe freien Lauf. Wer sich bislang der Einsicht verschlossen hat, wird in Wilders 22. Film nicht mehr darüber hinwegschauen können: Wilder ist der zärtlichste Satiriker der Filmgeschichte.
Und dabei doch niemals sentimental. Wenn Lemmon endlich nackt und bloss auf dem Felsen liegt, fragt er die ebenso nackte Pamela, was wohl ihre beiden Eltern in diesen Momenten miteinander gesprochen hätten. Die hätten sicher geschwiegen, behauptet Pamela, denn wer verliebt sei, könne auf Worte verzichten. Brillanter Konter, denkt sich Wendell, wenn mich meine Frau das nächste Mal fragt, warum ich nicht mit ihr spreche. Und wie sieht es in Pamelas Beziehung aus? «Wir haben seit sechs Monaten nicht mehr miteinander gesprochen.» – Wendell: «Sie müssen sich ja irrsinnig gern haben.»
Thomas Binotto

Thomas Binotto ist hauptberuflich Redaktor des katholischen Zürcher Pfarrblatts «forum» und frönt daneben seiner Filmleidenschaft mit Artikeln in der NZZ, in Filmzeitschriften und im zweiwöchentlichen E-Mail-Newsletter «Abspann». Letzte Buchpublikation: Mach’s noch einmal, Charlie! – 100 Filme für Kinofans und alle, die es werden wollen. Bloomsbury 2007.