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Bernardo Bertolucci: Der Nonkonformist

Il conformista, Last Tango in Paris, Novecento, The Last Emperor: Seit den frühen siebziger Jahren hat der Italiener Bernardo Bertolucci immer wieder Filme vorgelegt, die ebenso leidenschaftlich geliebt wie gehasst wurden. Anlass genug für einen neuen Blick auf sein uneinheitliches Werk, besonders die frühen Jahre, in denen Bertolucci souverän sein Themen- und Formenrepertoire entwickelte. Bernardo Bertolucci filmt seit einem halben Jahrhundert. Mit fünfzehn Jahren fing er an, mit zwanzig assistierte er Pier Paolo Pasolini bei Accattone (1961). Meister und Schüler kommunizierten mit Gedichten. Bertolucci widmete Pasolini seinen ersten Gedichtband «In cerca del mistero» (Auf der Suche nach dem Geheimnis) mit den Zeilen «Vicino a te, timida come una sposa» (In deiner Nähe, schüchtern wie eine Braut). Pasolini antwortete mit «Ad un ragazzo: Col sorriso confuso di chi ha la timidezza» (An einen Knaben: Mit dem unsicheren Lächeln deiner Schüchternheit). Den anderen zu enträtseln versuchen und dafür Bilder zu finden, die sich befragen lassen und doch die letzte Antwort verweigern – dies sollte der Antrieb für Bertoluccis erste Filme werden. Das «Kino der Poesie» (Pasolini) lud ein zum Betrachten, zum genauen Hinsehen und diente nicht, wie in den sechziger und siebziger Jahren geübt, zum Abrufen einer Botschaft. In den Filmen Bertoluccis ist «der Andere» angesprochen, auch der Rezipient. Und dieser wird gefordert.

Auf Augenhöhe mit Laien und Stars
1962 ermöglichte Pasolini Bertolucci, einen ersten Spielfilm, La commare secca, zu drehen. Ein Film wie ein Gedicht: Er ist strophenartig aufgebaut, wie ein Refrain wiederholen sich nach jeder Episode Musik, das Rauschen eines Gewitterregens und Einstellungen aus dem Zimmer einer Prostituierten, die Kaffee und Milch auf den Herd rückt und einen Blick aus dem Fenster wirft. Bertolucci drehte mit Laiendarstellern aus dem römischen Subproletariat. Er hatte die Gabe, dem anderen in die Augen zu schauen, konnte ihn animieren, persönlich zu werden, attraktiv, aber nicht explizit. Auch als er später mit grossen Schauspielern wie Marlon Brando und Maria Schneider arbeitete, zeigten diese sich fasziniert und gingen ungewöhnlich stark aus sich heraus. In Last Tango in Paris (1972) gaben die beiden weit mehr von sich preis als vorgesehen – und beliessen es dabei. Bertolucci ging es dabei nie um die Dramaturgie einer Erzählung, um das Was-will-der-Autor-damit-Sagen; dies nota bene in einer Zeit, in der Engagement und politische Haltung gefordert waren. Man könnte Bertolucci insofern auch als Antipoden von Godard bezeichnen.
Der erste grosse Film, Prima della rivoluzione, entstand fünf Jahre vor 1968. Auf der Strasse die Herrschaft der Parolen, im Film regiert die Ambivalenz. Mit dem Figurenpaar Fabrizio und Agostino befreite sich Bertolucci von vorgezeichneten Rollen: Marxist, Mann, reich. Seine Lösung: Das eine sein und das andere nicht lassen. Sich aufzuspalten in Partner wie im gleichnamigen Film von 1968 und diese miteinander und gegeneinander spielen zu lassen, das ist sein Dauerthema, welches ihn bis zu The Dreamers (2003), dem nostalgischen Rückblick auf die Pariser Studentenbewegung der sechziger Jahre, beschäftigen wird. Die Bilder, die Bertolucci hierfür findet, sind affektiv besetzt; grosse Gefühle finden in der Oper ihren Ausdruck. Im Melodram La luna (1979) kann sich der 15-jährige Sohn einer Verdi-Sängerin vom übermächtigen Partner (der inzestuösen Mutter) lösen und geht eigene Wege, die in eine Schwulenkneipe führen. So finden Subproletariat und grosse Oper bei Bertolucci – wie bei Pasolini – zusammen.

Gezielte Ziellosigkeit
Die Befreiung kommt bei Bertolucci nie zum Ziel. Es geht ihm um die Tätigkeit. Bertolucci sagt von sich: «Ich filme». Niemals: Ich stelle einen Film her, ich bin Filmemacher. Genauso wie sich ein Maler nicht als Bildermacher bezeichnen würde, sondern als jemand, der malt. Bertoluccis Filme sind bildende Kunst.
Eine solche Sicht war einem grossen Teil der zeitgenössischen Rezipienten fremd. Da war einer, der sich um Diskurs und Drehbuch nicht scherte, dem aber Perspektiv- und Stimmungswechsel wichtig waren. Wenn in den Dialogen ein Merksatz vorkam, sorgte er dafür, dass dieser sogleich dementiert wurde. Der Zuschauer bekommt nichts, das er getrost nach Hause tragen könnte. In Prima della rivoluzione traktiert der eine den anderen: «Du musst Mitglied der Partei werden. Selbst wenn du dich irrst, hat der Irrtum einen Sinn. Gemeinsam muss man kämpfen.» – Der Irrtum hat den Tod zur Folge. Das kleinlaute Dementi «Ich dachte, die Worte (der Partei) sind klarer als meine.» Italiens linke Filmkritik hasste den Film, der nach seiner Uraufführung in Cannes 1964 zu einem Siegeszug durch Europa ansetzte.

Parallelfilme
Bertolucci blieb stets autark, machte sich nicht abhängig von politischen oder kommerziellen Gesetzen. Filmischer Ausdruck dieser Haltung ist von Partner an die Plansequenz, die lange autonome Einstellung, in der die Kamera Platz schafft für die Phantasie. Der Schnitt, als literarische Reminiszenz, verliert (zunächst) seine Wichtigkeit. Die Kamera übernimmt die Führung, am ausgeprägtesten in Strategia del ragno (gedreht 1969). Sie begleitet die Handlung «im Stil der Bummelzüge auf dem Land: Man entfernt sich nie zu weit, man bleibt immer in einem Abstand, das heisst, die Dinge werden fast immer von der Seite verfolgt» (Bertolucci).
In den Augen der italienischen Kritik hatte sich Bertolucci 1969 mit seinen «Parallelfilmen» ins Abseits manövriert, doch schon ein Jahr später zeigte sich, dass ein Film wie Il conformista, finanziert von Paramount-Universal, das Publikum erreichte. Die Mischung aus Ironie und Affekt wie auch das politisch zu interpretierende Bild vom historischen Faschismus, der sich als Konformismus im zeitgenössischen Alltag eingenistet hatte, wurden geschätzt. Bertolucci war zu einer Person auch des politischen Interesses geworden.
Ende der siebziger Jahre war Bertolucci mit seinen Filmen der Souverän des italienischen Films, Vorbild für Europas Filmemacher, hochgelobt von der Filmkritik und umworben von Filmproduzenten, bis hin zum fernen Hollywood, die das Jahrhundertwerk 1900 (1976) finanzierten.
Bertolucci aber blieb Europäer. Seine folgenden Filme wurden in Grossbritannien (ko)produziert, darunter die monumentale Parabel The Last Emperor (1987) und die gefeierte Paul-Bowles-Verfilmung The Sheltering Sky (1990). Zuletzt, in The Dreamers (2003), versuchte er, die objektive Geschichte der Pariser Studentenbewegung der sechziger Jahre in eine subjektive Parallelwelt zu verlegen: Nonkonformisten bleiben neugierig und aufgeschlossen. Bertolucci wartet noch immer und allen letzten Dingen zum Trotz (Last Tango in Paris, The Last Emperor) auf den Vorschein von etwas – ja was? –, das kommen wird.
Dietrich Kuhlbrodt

Dietrich Kuhlbrodt lebt als Schauspieler und Autor in Hamburg. Er hat die kommentierte Filmographie im Hanser-Band über Bertolucci verfasst.