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Mikio Naruse: Der Geschmack des Lebens

Nach Hiroshi Shimizu stellen wir einen weiteren japanischen Meisterregisseur vor, der im Westen wenig bekannt ist. Mikio Naruse (1905–1969) lebte fast gleichzeitig wie Yasujiro Ozu und drehte an die neunzig Filme. Und wie sein berühmter Landsmann, mit dem er am häufigsten verglichen wird, erzählt er am liebsten vom Kleinbürgermilieu, aus dem er selbst stammt. Dank dem Engagement der Japan Foundation können wir dreizehn seiner Hauptwerke in neuen 35-mm-Kopien präsentieren. Mikio Naruse wurde am 20. August 1905 in Tokio geboren, als jüngstes von drei Kindern einer armen Handwerkerfamilie. An eine höhere Ausbildung war nicht zu denken, und nach dem Abschluss der Handwerkerschule fand er – inzwischen durch den Tod des Vaters zum Arbeiten gezwungen – mit Hilfe eines Freundes 1920 eine Hilfsstelle in der Ausstattungsabteilung des Filmstudios Shochiku in Tokio.
Zu jener Zeit war es vergleichsweise einfach, Regisseur zu werden, denn nach einem Jahr als Regieassistent wurde man meist schon zum Regisseur befördert. Bei Naruse dauerte es zehn Jahre, was mit seinem Alter, aber auch mit dem Hass des notorisch gut gelaunten Studiochefs Shiro Kido auf den oft melancholisch bis depressiv gestimmten, dabei aber hart arbeitenden Naruse zusammenhing. Die Shochiku-Meister Yasujiro Ozu, Heinosuke Gosho, Hiroshi Shimizu wurden erst nach ihm eingestellt, konnten aber schon nach kurzer Zeit ihren ersten Film machen. Als Naruse 1929 aufgeben wollte, nahm ihn Gosho in seine Produktionsgruppe und protegierte ihn offen, was Kido irgendwann keine andere Wahl mehr liess, als ihn doch zum Regisseur zu befördern. 1930 konnte er seinen ersten Film inszenieren: Chanbara fufu (Herr und Frau Schwerterasseln), ein kurzes Slapstick-shomingeki (Genre, das Geschichten vom Alltag der einfachen Leute erzählt).
Der Vergleich mit Yasujiro Ozu wurde schon in der Frühzeit seines Schaffens als weitere Schikane von Kido angestellt, der ihm verbot, Filme wie Ozu zu machen – er brauche keinen zweiten Ozu. In gewisser Hinsicht hatte Kido sogar recht, denn bezogen auf die Welt ihrer Charaktere und deren sozioökonomische Gegebenheiten sind sich Naruse und Ozu tatsächlich sehr ähnlich, ihre Geschichten spielen aber in unterschiedlichen Schichten. Ozus Figuren bewegen sich im Extremfall am unteren Ende der Mittelschicht, Naruse hingegen zeigt eher proletarische Gestalten, die selbst als Barbesitzerinnen oder Geldverleiherinnen am Rande zur Verelendung leben. Seine Filme erzählen immer wieder von Zweifelnden und Verzweifelten, die versuchen, ihr Dasein, wie provisorisch es auch immer sein mag, in den Griff zu bekommen. Sie zeigen eine Welt, die die Menschen hart macht, gegen sich selbst und gegen die anderen. Es ist ein Kino der sozialen Konflikte, die oft vehement innerhalb der eigenen vier Wände ausgefochten werden. Gewisse Konstellationen finden sich immer wieder: Angeheiratete, die an ihrem Umfeld scheitern, Paare in existenziellen Krisen, kollabierende Familien. Naruse geht es um eine Dynamik des Zerfalls und darum, wie man aus Trümmern ein Leben (wieder) aufbauen kann.

Endlich: Die erste Blütezeit
Nach vier Jahren und 23 weiteren Filmen, ausschliesslich Stummfilmen, wechselte Naruse 1935 zu der neu gegründeten P.C.L. (später Toho), bei der er im gleichen Jahr mit Otome gokoro sannin shimai (Drei Schwestern mit reinem Herzen) seinen ersten Tonfilm realisieren konnte. In den folgenden fünf Jahren stieg er blitzartig zum Star auf, es entstehen seine ersten Referenz-Meisterwerke, neben Otomo gokoro sannin shimai auch Futarizuma - Tsuma yo bara no yo ni (Zwei Ehefrauen - Meine Frau, sei wie eine Rose!, 1935) oder Uwasa no musume (Ein Mädchen, von dem man spricht, 1935).
Schuld an dem schnellen Ende dieser Blüteperiode soll Naruses Beziehung und spätere Hochzeit (1937) mit der Schauspielerin Sachiko Chiba gewesen sein. Die Ehe raubte ihm Energie und wurde nach nur wenigen Jahren geschieden. In den darauf folgenden zwölf Jahren schuf er gutes bis grosses Kino, aber erst 1951 konnte Naruse mit Ginza gesho (Ginza Kosmetik) wieder einen wirklich bedeutenden Film realisieren; diesem folgte bis 1960 eine fast ununterbrochene Serie von Hauptwerken, die mit Onna ga kaidan o agaru toki (Wenn eine Frau die Treppe hinaufsteigt) abschliesst.
Von zentralem Stellenwert in Naruses Werk ist die Schriftstellerin Fumiko Hayashi, die er persönlich zwar nie kennen gelernt hat, deren Œuvre er aber ab 1951 während elf Jahren sukzessiv adaptierte. Vom Fragment ihres letzten Manuskripts Meshi (Das Mahl, 1951) bis zu ihrem quasi-autobiographischen Debüt Horoki (Aufzeichnungen über mein Vagabundieren, 1962) entstanden insgesamt sechs Filme nach ihren Vorlagen.
Zwei Jahre nach seinem letzten Film, Midaregumo (Zerrissene Wolken, 1967), starb Mikio Naruse am 2. Juli 1969 im Alter von 63 Jahren.

Ein Meister des unsichtbaren Stils
Naruse verstand sich als Regiehandwerker im klassischen Sinne. Er führte sich nie als grosser Regisseur auf und pflegte auch nie einen offen markanten Inszenierungsstil. Er kultivierte eine Kunst der Diskretion, die zu seinem Leben wurde. Ästhetisch gesehen, pflegte Naruse eine Kunst der «flüssigen Montage». Seine Filme sind wie Ströme, mal schnell, mal gemächlich, sie werden breiter, brechen sich an Steinen: Da ist eine beständige Bewegung, gegenwärtig selbst in Augenblicken der Ruhe und Besinnung.
Ein zentraler Grund dafür, dass Mikio Naruse in der historischen Filmkritik wenig reale Präsenz entwickelte und nicht zu einem lebendigen Teil des Diskurses wurde, findet sich vermutlich darin, dass man sein Kino nicht einfach argumentativ verwenden kann. Anhand seiner Filme lässt sich nichts demonstrieren oder technisch herausziehen, die Werke stehen für sich selbst, oft genug gerade noch für ihr jeweiliges Genre, jedoch nicht für einen bestimmten Stil. Naruse hat alles dafür getan, einen Stil zu schaffen, den man nicht sieht, sondern nur spürt. Der Zuschauer muss offen sein für ein Kino, das ganz unbedingt den Gefühlen und Gedanken seiner Charaktere folgt und dessen narrative und inszenatorische Logik allein die der Charaktere ist.
Naruse arbeitete sehr hart daran, den Filmen alles Vordergründige, alles Dekorative auszutreiben. Er suchte nach einem Zustand des Ungeschützten, einer Nackt-, und Schlichtheit, kurzum, nach Wahrhaftigkeit. Dabei war ihm zwar an einer Transparenz der Bilder gelegen, die mit ihren Details, die etwas Desorientierendes, vielleicht auch Anstössiges an sich haben, für die psychologischen Subtexte einstehen. Man muss nichts interpretieren, es liegt alles offen.
Olaf Möller

Olaf Möller ist Filmjournalist mit Spezialgebiet Ostasien und lebt, wenn er nicht als Kurator für Filmmuseen und Festivals unterwegs ist, in Köln. Seine ausführliche Broschüre zur Naruse-Retro, die das Japanische Kulturinstitut in Köln herausgegeben hat, ist an unserer Kinokasse für Fr. 5.– erhältlich.