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Premiere: Une histoire de fou

Plädoyer für Mitmenschlichkeit

Der armenischstämmige Marseiller Regisseur Robert Guédiguian ( Le promeneur du Champ-de-Mars , Les neiges du Kilimandjaro) dreht Filme aus persönlicher, staatsbürgerlicher Betroffenheit. Une histoire de fou ist sein Beitrag zum 100. Jahrestag der Deportationen des armenischen Volkes, ein wehmütiges Meisterstück der Vergegenwärtigung von Geschichte. Es war ein denkwürdiger Prozess, der im Juni 1921 vor dem Landgericht Berlin-Moabit verhandelt wurde. Er endete mit einem Urteil, das nicht weniger erstaunlich war. Der junge Armenier Soghomon Tehlirian war angeklagt, Talaat Pascha, den letzten Innenminister des osmanischen Reiches, der nach Berlin geflohen war, auf offener Strasse ermordet zu haben. Der Angeklagte war geständig und die Last der Indizien gegen ihn erdrückend. Aber die Geschworenen mussten sich nur eine Stunde beraten, um ihn freizusprechen.
Mit ihrem Urteil folgten sie der Argumentation der Verteidigung, Tehlirian habe Talaat Pascha, einen der Strategen des Völkermordes an den Armeniern, zur Rechenschaft ziehen wollen. Die Geschworenen verschlossen ihre Augen nicht vor den Gräueltaten des jungtürkischen Regimes, denen sechs Jahre zuvor anderthalb Millionen Menschen, darunter Tehlirians gesamte Familie, zum Opfer gefallen waren. Der Urteilsspruch wurde zum Fanal für die in der Diaspora lebenden Armenier. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass auf Druck der türkischen Diplomatie noch Jahrzehnte lang Schweigen gewahrt wurde über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts.
Eindrücklich rekapituliert Robert Guédiguian den Prozess im Prolog seines jüngsten Films. Mit einem diskreten Schwenk auf eine Litfasssäule verweist er auf den Kontext und das historische Erbe der Geschehnisse. Dort wirbt ein Plakat für einen Film, dessen Titel ebenso heisst wie die Geheimorganisation, der Tehlirian angehörte: Nemesis. Gleich daneben wird der Vortrag eines Politikers angekündigt, der Deutschland eine neue Zukunft verheisst und ein grosser Bewunderer der türkischen Verdrängungsdemagogie werden sollte: Adolf Hitler.

Schuld, Verantwortung und Terrorismus
Die eigentliche Handlung des Films setzt zwei Generationen später ein, im Marseille der 1980er Jahre, wo die armenische Familie Alexandrian ein Feinkostgeschäft betreibt. Sie ist zerrissen zwischen Erinnerung und dem Wunsch nach Vergessen. Sohn Aram schliesst sich der geheimen armenischen Terrorarmee Asala an. Er verübt ein Attentat auf den türkischen Botschafter, bei dem ein unschuldiger Passant, der Medizinstudent Gilles, schwer verletzt wird. Arams Mutter bittet das Opfer um Vergebung und setzt damit einen schwierigen, aber heilsamen Prozess der Annäherung in Gang.
Gegenüber der Vorlage, dem autobiografischen Roman «La bomba» des spanischen Journalisten José Antonio Gurriarán, erweitert Guédiguian die Erzählperspektive, indem er von der spirituellen Reise einer Vielzahl von Charakteren erzählt. Der Stoff scheint ungewöhnlich für einen Regisseur, der seine Geschichten gern um eine beschaulich-mediterrane Idee von Geselligkeit und Solidarität herum konstruiert. Mit armenischer Wehrhaftigkeit hat sich Guédiguian indes schon in dem Résistance-Drama L'armée du crime auseinandergesetzt. In Une histoire de fou nun verstrickt er den Zuschauer in einen leidenschaftlich offenen Dialog über Schuld, Verantwortung und die Legitimation des Terrorismus: ein emphatisches Plädoyer für die Mitmenschlichkeit.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.