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Paolo Sorrentino

Ein grosszügiger Moralist

Bereits für seinen ersten Spielfilm L’uomo in più wurde der Neapolitaner Paolo Sorrentino mit dem Nastro d’argento 2002 als bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet; mit Il divo, seinem satirischen Porträt von Giulio Andreotti, wurde er 2008 international bekannt. Inzwischen hat er einen Oscar, einen Golden Globe, Europäische Filmpreise und viele andere Auszeichnungen in Empfang nehmen können. Wir präsentieren neben den Spielfilmen des Ausnahmetalents auch eine Auswahl seiner Kurzfilme. Tagaus, tagein betrachtete er sie in der Hotelbar. Stets vermied er es, das Wort an sie zu richten. Womöglich tat er es mit der Unfreundlichkeit eines schüchternen Jungen, der dem Objekt seiner Sehnsucht ausweicht. Vielleicht wollte er sich eine Illusion erhalten, deren Geheimnis nur er kennt. Wenn ihr Blick einmal auf ihn fiel, beschlich ihn der Zweifel des älteren Mannes, ob die schöne, junge Kellnerin wirklich ihn meine. Er legte Wert darauf, kein frivoler Mann zu sein.
Eines Tages hat sie genug. Sie will endlich gegrüsst und als Mensch wahrgenommen werden. So viel Höflichkeit kann sie verlangen. Auch darauf schweigt er. Aber sie hat ihn aus der Reserve gelockt. Ein Zauber ist gebrochen, nun kann ein neuer entstehen. Acht Jahre lang hat Titta di Girolamo (Toni Servillo), ein Geschäftsmann mit dunkler Vergangenheit, im Exil zugebracht. Nun wagt er sich aus der Deckung. «An dieser Bar zu sitzen», sagt er zur Kellnerin, «ist vielleicht das Gefährlichste, was ich je getan habe.»
Skepsis und Lebensüberdruss müssten ihn eigentlich zurückschrecken lassen vor ihrer Annäherung. Aber der Titel des Films, dessen Wendepunkt diese Szene markiert, benennt bereits das Risiko, dem Paolo Sorrentino seinen Helden aussetzt: Le conseguenze dell’amore. Als di Girolamo die Schönheit der Kellnerin zum ersten Mal in den Blick nimmt, fährt ein Leichenwagen am Hotel vorbei. Maliziös spielt der Regisseur mit den Konventionen des Gangsterfilms. Die Übereinkünfte des Genrekinos bilden freilich keine zuverlässige Orientierung, um die Richtung zu bestimmen, die Sorrentinos Filme einschlagen. Der Regisseur lädt das Gewöhnliche, Alltägliche magisch auf und unterwirft das Leben einer rätselhaften Choreografie. Er komponiert Bilder von erlesen halluzinatorischer Wucht, in denen die Realität den Gesetzen eines Traumes folgt.

Die verlängerte Erzählung
In anderthalb Jahrzehnten hat der 1970 geborene Neapolitaner ein Werk von ganz eigener, unverwechselbarer Prägung geschaffen. Auch wenn er bisweilen offensiv den Vergleich mit Fellini herausfordert – La grande bellezza ist seine Replik auf La dolce vita und Youth seine Variante von Otto e mezzo –, bewegt sich sein Kino in einem persönlichen Koordinatensystem der erzählerischen Motive und Obsessionen.
Seine Themenwahl ist oft verblüffend – wer hätte ahnen können, dass auf Il divo, seine fiktive Biografie Giulio Andreottis, This Must Be the Place folgen würde, die filmische Eskapade eines Rockmusikers, der in den USA den Mann sucht, der seinen Vater im KZ misshandelt hatte?
Gleichwohl scheint seine Filmografie einem Masterplan zu folgen. Man darf diesem Regisseur unterstellen, absichtsvoll ans Werk zu gehen. Er ist bekannt dafür, seine Drehbücher so präzise auszuarbeiten, dass seine Darstellerinnen und Darsteller ihm kaum Fragen stellen müssen. Seit seinen Anfängen versichert er sich einer Kontinuität, indem er einen festen Stab um sich schart, aus dem der Kameramann Luca Bigazzi und der Schauspieler Toni Servillo hervorstechen. Die Zusammenarbeit mit diesem grandiosen Darsteller reicht in andere Medien hinüber: Gelegentlich verfilmt Sorrentino Servillos Bühneninszenierungen für das Fernsehen; die von Servillo verkörperte Hauptfigur aus dem Langfilmdebüt L’uomo in più greift Sorrentino später in einem Roman wieder auf.
Es bestehen intime Verbindungen zwischen den Filmen, mitunter antworten sie direkt aufeinander: In der Fantasie des Titelhelden von L’amico di famiglia lebt sein verschollener Vater in Rom gegenüber vom Kolosseum; der Gesellschaftsjournalist Jep tut es in La grande bellezza tatsächlich. Rolltreppen beschäftigen Sorrentinos visuelle Vorstellungskraft immer wieder. Seine Impressionen von der Indiskretion des Hotellebens aus Le conseguenze dell’amore finden ihre Fortsetzung in Youth, und die Frage nach der Gültigkeit von Freundschaften stellt sich in seinem gesamten Werk, um schliesslich in Youth eine ebenso affirmative wie schwermütige Antwort zu finden.
Sorrentinos Werk summiert sich zum Bildungsroman alternder Männer, die ein einfallsreiches Schicksal zu Wohlleben und Müssiggang verdammt hat. Ihr Begehren zielt auf die Jugend, deren Schönheit ihnen als verlorenes Paradies erscheint. Die Rückkehr dorthin muss scheitern, denn die Unschuld lässt sich nicht wieder herstellen. Das Geniessen ist Sorrentinos Protagonisten noch gegeben, das Erleben nicht mehr. Einzig dem Rockmusiker in This Must Be the Place wird das Privileg einer Prüfung zuteil: Die Konfrontation mit den Gräueln des Holocaust erlöst ihn aus seiner Lethargie. Ansonsten jedoch schürt der Regisseur Zweifel, ob seine Figuren das erträumte Glück verdienen. Er unterschlägt ihre monströsen Züge nicht.
Die Ambivalenz der Figurenzeichnung tritt bereits in L’amico di famiglia deutlich zutage, wo er listig das Klischee des schäbigen Geldverleihers unterläuft. Sie kulminiert im Porträt des Machiavellisten Andreotti, dessen einzige Ausschweifung die Liebe zur Macht ist. Servillo spielt ihn als Ungeheuer (seine Körperhaltung erinnert an Murnaus Nosferatu), dessen letztes Ziel das Durchhalten ist. Er schöpft einen trotzigen Stolz daraus, seine Gegner überlebt zu haben. Sorrentinos Helden sind gefallene Souveräne, die zwar noch einen Ehrenplatz am Bankett des Lebens einnehmen, aber längst im Stadium exquisiter Desillusionierung angelangt sind.

Obszöne Verfügbarkeit
Die Hypothese, jeder seiner bisherigen Filme sei das Kapitel eines einzigen (für den La grande bellezza kein schlechter Arbeitstitel wäre), wird bestärkt durch einen atmosphärischen Sog, der sich durch sein Werk zieht. Sorrentino erschafft prunkende Wehmutswelten, die Luca Bigazzis Kamera mit lyrischer Ironie einfängt. Seine Filme muten an wie Werbespots für den Überfluss des Lebens. Sie blicken auf Schaufenster, in denen die Konsumwelt grell und verschwenderisch drapiert ist. Darin reflektieren sie die Tyrannei der Zerstreuung, in die sich das Italien der Berlusconi-Ära begeben hat. Die Vulgarität dieses Pandämoniums der Verfügbarkeit übersetzt Sorrentino auf der Leinwand in einen sinnlichen Überschuss (die Sorgfalt, die er auf die Tonspur seiner Filme verwendet, wäre eine wissenschaftliche Arbeit wert), in dessen Zentrum eine spirituelle Leere nistet. Die Opulenz, die sich der Kamera unerbittlich darbietet, mag diese zum Schwelgen verleiten. Dem Glanz des süssen Lebens ist jedoch ebenso unausweichlich die Flüchtigkeit eingeschrieben, der die elegische Montage Rechnung trägt. Die Heranfahrten der Kamera auf bezeichnende, verlockende Requisiten unterstreichen nur deren Unerreichbarkeit. Sorrentino komponiert seine Gesellschaftstableaus so hintergründig, dass sie sich für eine zweite oder dritte Ebene öffnen können, auf der die Entzauberung lauert.
Er betrachtet das dekadente, mondäne Welttheater weder als Komplize noch als Spielverderber, er nimmt die Rolle des grosszügigen Moralisten ein, der bereit ist, sich überraschen zu lassen. Das Aufgebot an Schönheit ist in seinen Augen nicht vergeblich (erst recht nicht als Schauwert); episodisch schürt es die Hoffnung auf Einsicht und Verankerung im Leben. Die «grande bellezza» ist vielleicht nur ein anderes Wort für Wahrheit. Der Regisseur gibt die Suche nicht auf. Die Schaulust ist sein Schicksal.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.

Zusatzinformationen: Wir danken dem Stadtkino Basel, auf dessen Vorarbeit wir bei der Organisation dieser Reihe zurückgreifen durften.