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Menschen im Hotel

Grosse Auftritte, kleine Dramen

Hotels sind faszinierende Orte: Hier treffen Menschen verschiedener sozialer und nationaler Herkunft aufeinander; es kommt zu Begegnungen und Konfrontationen, die ausserhalb des Gasthauses nie stattfinden würden. Grosse Auftritte, kleine Dramen, unerwartete Partnerschaften und unverhoffte Lösungen: Hotels sind Mikrokosmos und Metapher zugleich und bieten damit idealen Filmstoff. Wir präsentieren eine Auswahl aus dem Hamburger cinefest von 2015. Die Grundsituation: Die Menschen sind unterwegs und befinden sich in der Regel nicht in ihrer gewohnten Umgebung. Dabei können sie sich verstellen, täuschen und betrügen. Die Reisenden, die im Hotel haltmachen, sind oft nicht, wer sie zu sein scheinen. Womöglich zeigt sich aber auch in dieser Situation erst ihr wahres Ich. Die Möglichkeiten für dramatische Konflikte sind vielfältig.
Für den Film ist dieser Handlungsort geradezu prädestiniert, denn ein Besuch im Hotel ähnelt den anderthalb Stunden, die wir im Kino verbringen: Für kurze Zeit kommen wir in einen begrenzten Raum, und für die Dauer unseres Aufenthalts ist dieser kleine Raum wie das ganze Leben. Alles spielt sich hier ab: Geburt und Tod, Begegnungen und Trennungen, Liebe, Hass und Freundschaft, Versteckspiel und Offenbarung, Edelmut und Verbrechen, Lebenskrisen und deren Bewältigung. Am Ende, wenn wir aus dem Hotel oder dem Kino kommen, kehren wir zurück in unseren Alltag, wo diese Begegnungen noch nicht stattgefunden haben, die Verbrechen noch nicht gewagt sind, die Liebe noch nicht gefunden wurde. Doch vielleicht ist unser normales Leben durch das, was wir in jener kurzen Zeit auf begrenztem Raum erlebt haben, ein kleines bisschen anders geworden. So ist das Hotel (oder das Kino), ein Spiegel des Lebens und Traum einer besseren Welt. Das zeigt etwa Robert Siodmaks erster Tonfilm Abschied (1930), in dem die Umstände des Zusammenlebens am Ende der Weimarer Republik dazu führen, dass ein junges Paar auseinandergeht.

Bühne für Täuschungen und Verwechslungen
Da die verschiedenen Gäste eines Hotels einander in der Regel nicht kennen, öffnet sich die Bühne für Täuschungen und Verwechslungen. So bietet das Motiv des Hotels den Stoff sowohl für Dramen als auch Komödien – oder Mischformen aus beiden. Das Spiel mit Identitäten bezieht auch die sexuelle Identität mit ein, so in Victor Jansons Der Page vom Dalmasse-Hotel (1933), in dem Dolly Haas eine junge Frau spielt, die sich, um einen Job im Hotel zu bekommen, als Knabe verkleiden muss. Da verliebt sie sich natürlich in einen Hotelgast, der ein gestandener Mann ist. Dieser kann diese Liebe allerdings erst erwidern, als sie das Hotel verlassen und das Versteckspiel aufgehoben wird.
Es liegt nahe, das Hotel als filmische Metapher zu verstehen. Die Vorgänge während des Hotelaufenthalts, verdichtet auf eine kurze Zeit und einen begrenzten Raum, stehen symbolisch für Vorgänge der ganzen Gesellschaft, die Erkundung des inneren Erlebens und der eigenen Identität. So weisen surreale und hochgradig stilisierte Filme wie Alain Resnais' L'année dernière à Marienbad (1961), der an Werke Kafkas erinnert, auf inneres statt äusseres Erleben. In Berthold Viertels The Passing of the Third Floor Back (1935) gerät in einem Londoner Boarding House die Konfrontation zwischen einem sanftmütigen Neuankömmling (Conrad Veidt) und einem alteingesessenen reichen Geschäftsmann gar zum Kampf zwischen Gut und Böse. Einige Hotelfilme konzentrieren sich auf die Erlebnisse der Gäste, oft gut situiert, doch mit Problemen, wie in Edmund Gouldings Grand Hotel (1932).

Portiers und Pagen
Andere Hotelfilme werfen den Blick auf die Bediensteten, deren Arbeitsplatz und somit nicht nur vorübergehender Aufenthaltsort das Hotel ist, und die meist unauffällig im Hintergrund für das Wohl der Gäste sorgen, etwa im Schweizer Klassiker Palace Hotel. Die Portiers, Pagen, Kellner, Zimmermädchen und Direktoren wissen oft mehr über die Vorgänge im Leben ihrer Gäste als diese offenbaren wollen. Doch finden sie Erfüllung in ihrer Aufgabe als Diener und heimliche Beobachter, oder eröffnet der Blick durchs Schlüsselloch – eines der frühesten Filmmotive – den Wunsch nach einem anderen Leben? Einer der berühmtesten Hotelfilme, F. W. Murnaus auf dem Höhepunkt der Stummfilmzeit entstandener Der letzte Mann (1924), erzählt die Geschichte vom Fall und seltsamen Wiederaufstieg eines Hotelportiers (Emil Jannings), für den diese Stellung alles bedeutet. Die prunkvolle Portiersuniform mit ihren goldenen Knöpfen verleiht ihm Respekt und Würde. Als er sie verliert, ist er ein gebrochener Mann. Das von der Produktionsfirma aufgezwungene Happy End macht den «letzten Mann» dann doch noch zum reichen Erben, der nun nicht mehr Diener, sondern umsorgter Gast ist.
Etabliert ist der Schauplatz Hotel in Literatur und Film spätestens seit Vicki Baums Weltbestseller «Menschen im Hotel» (1929), der die Begegnungen zwischen Todessüchtigen, Glücksrittern und Melancholikern in den letzten Jahren der Weimarer Republik schildert. Verfilmt unter anderem als Grand Hotel (1932) und Menschen im Hotel (1959, Regie: Gottfried Reinhardt) mit Starensembles der jeweiligen Zeit, wurde Baums Roman nicht nur zum Muster des «group novel», in dem eigentlich voneinander unabhängige, aber in einer bestimmten Situation (Hotel, Kaufhaus, Schiff, Flugzeug) schicksalhaft aufeinandertreffende Lebensgeschichten erzählt werden. Baums Buch zeigt auch beispielhaft, wie Literatur als Film adaptiert wird: Statt wie bisher entweder Star-Vehikel mit ein oder zwei herausragenden Star-Schauspielern zu produzieren oder dann Ensemblefilme mit einer Gruppe gleichberechtigter Schauspieler, von denen keiner besonders hervorgehoben wird, schuf Hollywood für die Verfilmung von «Menschen im Hotel» den Star-Ensemblefilm, und Joan Crawford musste sich erst einmal daran gewöhnen, nur eine von vielen Rollen an der Seite einer Greta Garbo zu spielen.
Nicht nur in den Vicki-Baum-Adaptationen bietet der Schmuck der Schönen und Reichen eine verlockende Verführung. Das Hotel ist auch wiederholt Tatort diverser Verbrechen. Raub, aber auch Mord, Betrug, Spionage und Verschwörung scheinen dort an der Tagesordnung zu sein. In Johannes Guters Grand Hotel …! (1927), einer Mischform aus Komödie und Drama, löst der Diebstahl eines wertvollen Schmuckstücks eine Kette absurder Verwicklungen aus. Da die meisten Gäste etwas zu verbergen haben, möchten sie den Diebstahl lieber vertuschen statt von der Polizei aufklären lassen. Als die Polizei dann tatsächlich kommt, ist das Ergebnis Chaos, Selbstmord, aber auch eine neue Liebe.
«Menschen kommen, Menschen gehen. Nie passiert etwas», sagt der lakonische Hotel-Dauergast Dr. Otternschlag in Grand Hotel. In Wirklichkeit kann er alles, was passiert, in diesem Mikrokosmos seines Hotels beobachten. «Keiner verlässt die Drehtür so, wie er hereinkam» (Vicki Baum), und dazwischen spielt sich das ganze Leben ab.
Olaf Brill, Swenja Schiemann, Erika Wottrich

Die Autorinnen und der Autor gehören zum Team von cinefest, Internationales Festival des deutschsprachigen Film-Erbes, mit dem das Filmpodium bereits mehrfach zusammengearbeitet hat (u. a. «Deutsch-tschechische Filmbeziehungen», 2008 und «Euro-Western», 2012). Der Text (hier leicht gekürzt) ist im reich illustrierten Katalogbuch zum Hamburger Festival erschienen, das zahlreiche Hintergrundgrundartikel und Analysen enthält und an der Kasse des Filmpodiums zum Preis von Fr. 25.– erhältlich ist.

Zusatzinformationen: Die Zitate aus zeitgenössischen Rezensionen stammen alle aus dem Katalog cinefest 2015