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Zwei Filme von Marco Bellocchio

Familienbande

Mit I pugni in tasca realisierte Marco Bellocchio, Jahrgang 1939, vor fünfzig Jahren einen Debütfilm, der ihm internationale Beachtung brachte. Wir zeigen die frisch restaurierte Version dieses grimmig-leidenschaftlichen Erstlings und freuen uns, dass Marco Bellocchio sein neuestes Werk, Sangue del mio sangue, persönlich bei uns vorstellen wird. Es schlägt den Bogen von mittelalterlichen Hexenprozessen bis zu mafiösen Verstrickungen in der heutigen italienischen Gesellschaft. Ist es einem Filmemacher erlaubt, sich in Krisenzeiten aus der Gegenwart zu stehlen? Wirft das Heute nicht drängendere Probleme auf, als dass sich ein politisch wachsamer Regisseur den Abstecher in die düstere Zeit der Inquisition gestatten dürfte? Die Aktualität stellt Forderungen, denen sich das Kino nicht einfach entziehen kann.
Im Falle Marco Bellocchios empfiehlt sich Nachsicht – und Neugierde. Nicht nur hat er in seinem Werk die gesellschaftlichen Institutionen Italiens – Familie, Kirche, Schule, Justiz, Politik – systematisch einer kritischen Prüfung unterzogen und in seinem vorangegangenen Film Bella addormentata gerade erst das brisante Thema der Sterbehilfe in aller Vielschichtigkeit aufgegriffen. Überdies hielten seine filmischen Exkursionen in die Historie stets einen Erkenntnisgewinn bereit, der sich nicht in einer eindeutigen Relevanz für die Gegenwart erschöpft, sondern darüber hinaus eine zeitlose, metaphorische Gültigkeit besitzt.
Mit Blick auf Sangue del mio sangue muss man die eingangs gestellten Fragen mit einem entschiedenen Ja beantworten. Bellocchio inszeniert keinen Konflikt aus dem Kostümverleih einer vergangenen Epoche. Ein Motiv, auf das er mit hellsichtiger Konsequenz wiederholt zurückgreift, ist brandaktuell: die Überwachung. Die Institutionen, hier die Kirche, stellen unerbittliche Forderungen an das Individuum, bedrohen seine Identität, indem sie in dessen privateste Sphären hineindrängen. Der Hexenprozess im Konvent von Bobbio, in den ein der Gewalt müder Soldat verstrickt wird, ist ein Spielfeld der Ideologie, auf dem die Wahrheit um des vermeintlichen Gemeinwohls willen verschleiert wird. Aber seit seinem Regiedebüt I pugni in tasca ergreift Bellocchio radikal Partei für die Aussenseiter, die Träumer und Verweigerer. Seine Sympathie gilt denen, die Sand ins Getriebe streuen. Für einen Augenblick scheint es, als würden sich auch im Schattenreich der Frömmigkeit, die Bellocchio in Sangue del mio sangue minutiös aus ihren eigenen Gesetzen und Ritualen heraus rekonstruiert, unverhoffte Freiräume öffnen. Dieser Regisseur hat noch nicht verlernt, ein wehmütiger Utopist zu sein.
Raffiniert verschränkt er die Zeitebenen, schafft auf verblüffende Weise den Anschluss zur Gegenwart. Er legt die Wurzeln der italienischen Gesellschaft frei, in dem er die fatale Verharrungskraft ihrer Säulen dingfest macht. Wie in I pugni in tasca genügt ihm dazu ein Schauplatz. Im Debüt ist es die Villa einer bürgerlichen Familie, hier ist es ein Konvent, der später als Gefängnis und schliesslich als Zuflucht eines greisen Mafioso dient, der als Untoter weiterwesen muss. Jede Episode beginnt mit dem Öffnen der Pforte. Türen und Fenster spielen seit jeher eine tragende Rolle in der Architektur seiner Filme, geben den Blick frei oder verwehren ihn. Sie markieren die Schwelle zwischen der Welt, die seine Figuren in sich tragen, und der Welt ausserhalb. Nur selten lassen sie sich in seinem Kino in Einklang bringen, aber seit I pugni in tasca wählt er unweigerlich die Perspektive des subjektiven Empfindens.
Die Kamera umfängt seine Charaktere mit sinnlicher, gestischer Achtsamkeit. Sie sucht eine ungestüme Nähe zu den Gesichtern, ist ein Seismograf der inneren Erschütterungen und gesellschaftlichen Traumata. In der unbehaglich winterlichen Atmosphäre seines Debüts entfaltet er einen ganzen Katalog der Krankengeschichten: Psychosen, Epilepsie, Blindheit, eine Ahnung von Inzest. In dieser ersten Studie repressiver Familienstrukturen kündigt sich an, wie gewissenhaft er die Malaise Italiens fortan in den Blick nehmen wird. Auch in seinem neuen Film erweisen sich die Blutsbande als unentrinnbar. In der Zusammenschau wird deutlich, wie sich das Werk eines grossen Regisseurs runden kann – absichtslos, aber keineswegs zufällig.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.