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Ritwik Ghatak

Brennender Tiger

«Im indischen Film hat es keiner geschafft, ihn an Heftigkeit und epischer Schönheit der Bilder zu übertreffen», urteilte sein Kollege Satyajit Ray über Ritwik Ghatak (1925–1976), der erst posthum als einer der grössten Filmemacher Asiens erkannt wurde. Das Filmpodium zeigt sechs der acht Filme, die Ritwik Ghatak vollendet hat. Während Satyajit Ray selbst – als Person wie als Künstler – die Erwartungen des Westens an Indiens Kinokunst perfekt zu erfüllen schien und als dessen «Vorzeigesohn» (Jacob Levitch) fungierte, bot das elektrisierend zerrissene, experimentierfreudige Werk des von Selbstzweifeln geplagten «Problemkinds» Ritwik Ghatak keine wohligen Sicherheiten. Sein Spitzname war «brennender Tiger», und so lodernd, Grenzen sprengend war auch sein Kino. Der von Ray beschworene Aspekt der «epischen Schönheit» kann durchaus auch im Sinne Brechts verstanden werden, den Ghatak ins Bengalische übersetzte. «Für all jene, die das Glück hatten, einen seiner Filme zu sehen, zählt Ghatak zu jenen seltenen Künstlern, die durch ihre Art, die Dinge zu zeigen, unsere Vorstellung von der Welt verändern», so der französische Autor Hubert Niogret.

Als Sohn eines ostbengalischen Magistratsbeamten verbringt Ghatak eine harmonische Kindheit im Schoss der Familie. Die Teilung Bengalens 1947 wird zum einschneidenden Erlebnis: Wie Abermillionen flieht Ghataks Familie aus Ostpakistan (heute: Bangladesch) ins indische Kalkutta, wo er sich bald in der kommunistischen Partei und beim Theater engagiert. Der kulturelle Brennpunkt ist die «Indian People’s Theatre Association» (IPTA), zu deren Umfeld auch Satyajit Ray, Mrinal Sen und viele spätere Ghatak-Mitarbeiter gehören. Nach internen IPTA-Streitigkeiten (er wird als Trotzkist abgestempelt) sieht Ghatak im Kino eine neue Chance – auch auf mehr Publikum. Sein Filmdebüt Nagarik (1953) wird jedoch erst nach seinem Tod gezeigt. Wäre dieser Film vor seinem eigenen Debüt Pather Panchali herausgekommen, meint Ray, hätte man Indiens Kino mit Ghatak entdeckt. Ritwik Ghataks Der Vagabund (Ajantrik) läuft 1958 am Rande des Festivals in Venedig, und allein Georges Sadoul feiert den «jungen, aussergewöhnlich begabten Filmemacher».


Persönliche und politische Zerrissenheit

Mit dem Hauptwerk Der verborgene Stern (Meghe dhaka tara) folgt 1960 ein einziger Publikumserfolg, bevor Ghatak sich im eigenen Feuer verzehrt: Bis er 51-jährig stirbt, bricht der von Tuberkulose, Tumoren und Alkohol zerfressene Filmemacher mehr Projekte ab, als er vollendet. Mit autobiografischer Intensität erzählt er vom Überleben, der Verteidigung einer menschenwürdigen Existenz im Angesicht der Verzweiflung: Im unfassbaren Abschiedswerk Einsicht, Streit und eine Geschichte (Jukti, takko aar gappo) inszeniert sich der gezeichnete Ghatak selbst als Alkoholiker; e-Moll (Komal gandhar) beschwört die IPTA-Zeit, Der Fluss Titash die Erinnerung an die Delta-Landschaften seiner Jugend.
Flüsse – seine grössten Epen, Subarnarekha und Der Fluss Titash, tragen deren Namen im Titel – und Flüchtlinge sind Zentralmotive für Ghataks Geschichte(n) eines so nicht mehr existierenden Staates. Dessen politische Zerrissenheit prägt Ghataks Ästhetik: Tradition und Moderne sowie melodramatische, realistische und revolutionäre Inszenierungsideen befeuern einander auf verdreifachter Erzählebene – im individuellen Drama spiegeln sich grössere soziale Allegorien und mythische Abbilder. Ghatak-Heldinnen wie Nita in Der verborgene Stern opfern sich in nationaler Notlage als Ernährerin für ihre Familie: Mother India. Zugleich sind sie Wiedergängerinnen von Göttinnen: Wie die alten Mythen schildert Ghatak den Kreislauf von Zerstörung und Wiedergeburt.

Die mysteriöse, oft nervöse Kraft und Komplexität von Ghataks Kunst verdankt sich der kühnen Verzahnung widerstreitender Ideen. Über gewaltige Bilder setzt er erstaunliche Tonspuren: Peitschenschläge zu Nitas unvergesslichem Abstieg, Schüsse zur Nachricht von Ghandis Tod in Subarnarekha. Musik dient als Brücke – auch zwischen der konkreten Wirklichkeit und der erstrebten Universalität, im Mitgefühl für die Figuren, in der sozialen und allegorischen Ambition und in der masslosen Leidenschaft, mit der Ghatak sich aufreibt: «Ein Mensch stirbt, die Menschheit lebt weiter.» Die Menschheit hat erst nach Ghataks Tod entdeckt, was er ihr gegeben hat: eine einzigartige Vision von Kino, tosend wie die grossen Flüsse, die es durchströmen.
Christoph Huber

Christoph Huber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Filmmuseum, wo die Ghatak-Reihe Januar/Februar 2015 gezeigt wurde. Von ihm stammen auch die Kurztexte zu den Filmen.
Die beiden Ghatak-Filme Der Bürger (Nagarik) (1953) und Der Ausreisser (Bari theke paliye) (1959) sind derzeit nicht im Original zugänglich.

Zusatzinformationen: Kurztexte: Christoph Huber